das jüdische logbuch 07. Aug 2020

Die vergessenen Juden

Athen, Juli 2020. Sein Grossvater war Barbier in Thessaloniki, konnte sich vor den Nazis verstecken. Der Rest der Familie wurde weitgehend vertrieben oder ermordet. Nun ist er Hilfsschammes in der jüdischen Gemeinde von Athen. Das romaniotisch-jüdische Erbe ist auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Europas längst vergessen oder allenfalls Touristenattraktion. Doch in Athen ist es noch wahrhaftig. Romaniotische Juden gehören in Europa zu einer der ältesten jüdischen Minderheiten mit eigenen Sprachen und Dialekten und eigenem Brauchtum. Athens jüdische Gemeinschaft geht auf sie zurück. In der 1935 errichteten sephardischen Synagoge Beth Schalom ist davon wenig zu sehen, und doch begegnet einem die Geschichte beim Gang durch die Strassen von Athen, Thessaloniki oder etwa Korfu versteckt immer wieder. In Griechenland wüteten die Nazis gegen Ende des Zweiten Weltkriegs heftig, ermordeten den Grossteil der jüdischen Gemeinschaft und liessen vor allem in Thessaloniki, einer der bedeutendsten jüdischen Gemeinschaften über Jahrhunderte, besondere Grausamkeit wüten. Seit einem Jahr hat Ioannina im Nordwesten Griechenlands mit Moses Elisaf den ersten jüdischen Bürgermeister des Landes. Neue jüdische Museen in Thessaloniki und Athen sowie dereinst ein zurzeit geplantes Schoah-Zentrum vermitteln das Erbe einer zentralen jüdischen Gemeinschaft, die heute noch rund 6000 Mitglieder inklusive Gemeinden auf Inseln wie Rhodos, Kreta und Korfu umfasst. Mit der Wirtschaftskrise des Landes, den Disputen mit der EU und speziell mit Deutschland sind neben historischer Aufarbeitung auch wieder Restitutionsforderungen Griechenlands ins Zentrum gerückt. Mit der Flüchtlingsbewegung seit 2015 ist für die jüdische Gemeinschaft ein Kontext entstanden, dem sie gemäss den Gemeindeverantwortlichen in Athen mit Solidarität begegnet. Migration, Flucht, Vertreibung ist auch in Griechenland zum Narrativ der jüdischen Gemeinschaft geworden, nachdem sie über Jahrhunderte prosperierte. Seit einigen Jahren wird dieses Erbe nun aufgearbeitet.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann