das jüdische logbuch 13. Okt 2023

Die neue Zukunft mit der Barbarei

Basel, Oktober 2023. Dieser Angriff der Hamas wird Israel, den Nahen Osten und die jüdische Gemeinschaft auf lange Zeit fundamental verändern. Die Geiselnahme israelischer Zivilisten, die Massaker an Hunderten israelischer Konzertbesucher und die brutalen Massaker an den Bewohnern von Kfar Aza und anderen Ortschaften sind ein neuer Quantensprung in der Gewaltspirale zwischen Palästinensern und Israeli. Die Hamas legt mit barbarischen Verbrechen die neuralgischsten Ängste, israelische und jüdische Traumata frei. Seit dem Lynchmord von Ramallah im Jahre 2006, als die israelischen Reservisten Vadim Nurzhitz und Yossi Avrahami durch einen palästinensischen Mob vor laufenden Kameras ermordet wurden, haben Israels Sicherheitskräfte ein ähnliches Szenario mit allen Mitteln zu verhindern versucht. Seit damals war es israelischen Bürgern per Gesetz verboten, in die Westbank zu fahren. Die Furcht vor Geiselnahmen war enorm. Heute ist dieser Horror eingetreten und Bilder von zivilen Geiseln, gekidnappten Soldaten, eroberten Panzern und flüchtenden israelischen Zivilisten gehen um die Welt und finden bereits eine euphorische Anhängerschaft. Die Pflichtbekundungen westlicher Diplomaten und Politiker gehen über die Agenturen, doch finden sich keine Stimmen der Deeskalation oder Verurteilung der Geiselnahmen aus den Reihen von Palästinas Zivilgesellschaft, arabischer Verbündeter oder von muslimischen Geistlichen. Der Schweizer Bundesrat laviert in den Tagen der Attentate und muss regelrecht dazu gedrängt werden, die Hamas auf die Terrorliste zu setzen. Israels Gesellschaft indessen ist verunsichert. Denn alle wissen um das Versagen der israelischen Geheimdienste, darum, dass die Verlässlichkeit von Israels vielfacher militärischer Überlegenheit gebrochen werden kann. Schock, Ohnmacht, Verzweiflung lassen in den ersten Tagen des Begreifens eine paralysierte Gemeinschaft zurück. Es hätte nie so weit kommen dürfen, dass eine Terrororganisation den so genanten Palästinenserkonflikt abseits von diplomatischen Verhandlungsplattformen in Erinnerung ruft – mit mittelalterlichen, völkerrechtswidrigen, barbarischen Mitteln gegen die Zivilbevölkerung. Die Menschen erzählen schauerliche und herzzerreissend Geschichten von Angehörigen, Vermissten, Soldaten. Die Strassen sind weit über den abgeriegelten Süden hinaus leer. Noch während die Geiselnahmen in vollem Gang und im Süden israelische Ortschaften unter der Kontrolle von Hamas-Brigaden waren, war in Israel an diesem jüdischen Feier- und zugleich Kriegstag die innerisraelische Kritik in der Presse massiv und unüberhörbar. Erstmals seit 1945 ist das Simchat-Thora-Fest vom Wochenende ohne Gesang und Tanz gefeiert worden. Es wird sich in die jüdische Geschichte einschreiben. Wie ein Lauffeuer erreichten die Nachrichten vom Angriff der Hamas gegen Israel die Synagogen weltweit, Gesänge zum Hallelgebet wurden eingestellt. Das Thorafreudenfest verstummte in der Sorge um Freunde, Verwandte und ein Land im Dauerkonflikt. Im Kontrast dazu ist der Angriff auf Israel auf sozialen Medien längst ein Event aller Seiten, die sich das tragische Ereignis zu nutzen machen mit perversesten Exzessen. Draufhauen statt Innehalten sind Teil eines Konflikts, bei dem keiner dem anderen mehr zuhört.

Die kommenden Tage und Wochen werden von Nachrichten und Bildern dominiert, die für Israel und die jüdischen Gemeinschaften weltweit einschneidend sein und eine Dimension erreichen werden, die in den 75 Jahren von Israels Bestehen selbst in den schlimmsten Terrorwellen der Intifada nicht zu sehen gewesen war und die an die Geiselnahmen und Hinrichtungen israelischer Sportler durch PLO-Kämpfer bei der Olympiade von München 1972 erinnern. Die einen werden sagen, dass mit den Palästinensern ein Friede nie möglich sein werde, die anderen werden die Besatzung von Millionen von Palästinensern ins Feld führen. Mit beidem wird man sich nicht anfreunden dürfen und man muss hoffen, dass Pragmatiker auf beiden Seiten einen Weg aus dieser Sackgasse der Eskalation finden werden.

Der Horror der Bilder und die schrecklichen Einzelschicksale überwältigen Menschen weltweit, ein Umgang damit muss gelernt werden.

Täglich finden in Israel irgendwo Beerdigungen statt. Immer mehr Zeugnisse der verheerenden Massaker, Entführungen und Einzelschicksale werden in Israels und den sozialen und Medien weltweit publiziert. Sie sind schockierend, grausam und führen nochmals die skrupellose Grausamkeit des Islamisten vor Augen. Die Menschen in Israel, die jüdischen Gemeinschaften weltweit müssen in diesen Tagen mit Schreckensnachrichten und Bildern umzugehen lernen, die über die Grausamkeit des Moments tiefste Traumata abrufen. Die Bilder der ersten Stunden werden in Israels und der jüdischen Geschichte eingeschrieben bleiben und die bevorstehenden Nachrichten über tote und lebende Geiseln werden in den kommenden Wochen und Monaten immer grausamere Geschichte und viele Dilemmata für Israels Armee, Regierung, Jüdinnen und Juden bedeuten. Als ob der Nahe Osten wieder in die tiefen 1970er Jahre mit den palästinensischen Flugzeugentführungen mit Geiselnahmen zurückkatapultiert wurde, die Welt daraus wenig gelernt hat, präsentieren sich in diesen Stunden unreflektierte Nachrichten des Grauens, die auch von Israels Behörden nicht mehr unter Kontrolle gehalten werden können. Der Krieg kommt für viele auch ausserhalb Israels immer näher. Viele kennen direkt oder indirekt Menschen, die mit Opfern bekannt waren. Viele kennen israelische Soldatinnen und Soldaten, die in den letzten Tagen eingezogen wurden. Die Barbarei dieser Tage öffnet vielen in der Welt die Augen – doch ebenso viele werden nach den Solidaritätskundgebungen dieser Tage bald zur Tagesordnung übergehen. Die Bilder werden bleiben, die Herausforderungen für Israeli und Juden weltweit mit den Schreckensszenarien und Geschichten umzugehen, ebenso. Schwierige Entscheidungen werden zu treffen sein. Israels und der jüdische Alltag werden in Gemeinden, Schulen und so fort anders sein. Nach dem Schock werden sich alle auf neue Realitäten und den Umgang mit dem blutrünstigen Horror einstellen müssen. Die Generation der neuen Traumata wurde in diesen Tagen damit konfrontiert. Und sie muss lernen, damit umzugehen. Eltern müssen Wege finden, ihren Kindern vom Grauen zu erzählen, und die jüdische Gemeinschaft weltweit wird Wege, diesen Barbarismus zu verarbeiten, finden – zwischen Schmerz, Emotionen und Ratio, für die Gestaltung einer neuen Zukunft.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann