Das Jüdische Logbuch 10. Aug 2018

Die neue Zeitrechnung

Redaktion, August 2018. Es ist Sommerzeit. Doch Telefon, Fax, Mail, Post machen in diesem Jahr keine Pause. Vor allem jüdische Menschen aus der Schweiz und aus dem Ausland melden sich. Sind in Sorge. Bekunden Solidarität mit Minderheiten in Israel. Die Menschen eint die Sorge um den sich schon seit längerem ankündigenden Paradigmenwechsel in Israel und die Art, wie er jetzt manifest wurde. Viele Gespräche und Einblicke in Biografien. Holocaust-Überlebende und ihre Migrationsgeschichten, junge Menschen oder gar Aktivisten, deren Glauben erschüttert wurde, und viele, die sich gerade in jüdischen Gemeinden oder Organisationen für Minderheitenrechte und um Gleichberechtigung der jüdischen Gemeinschaft einsetzen. Der Satz bleibt hängen: «Wo sind jetzt all jene oft zu Recht aufbegehrenden Stimmen, wenn Gleichberechtigung oder Ausgrenzung von Jüdinnen und Juden zur Disposition gesellt werden?» Gesagt von einer Dame, die als Kind den Krieg überlebt hat. – Es sind die Tage, nachdem das israelische Parlament das so genannte Nationalgesetz eingeleitet und auf zwei Ebenen mit der eigenen Tradition gebrochen hat: 70 Jahre nach der Proklamation des Staates Israel bedeutet die jüdische adverbiale nicht mehr Ein- sondern Ausgrenzung und damit das Ende der gesetzlichen Gleichberechtigung von Juden und Nichtjuden. 70 Jahre haben die jüdische Gemeinschaft in der Welt und diejenige in Israel sozusagen Hand in Hand für Gleichberechtigung von Minderheite gekämpft. Seit drei Wochen steht dieser Kampf unter neuen Vorzeichen und seit vielen Jahren schon unter Beschuss. Die Matrix hat sich geändert: «Möchten Sie darüber schreiben, ein Interview geben?» – «Nein. Ich möchte mich öffentlich dazu nicht äussern. Wo sind denn alle Organisationen, der Weltkongress oder der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG)? Wo waren sie alle, als Orbán und Netanyahu gegen George Soros in einer unheiligen Allianz vorpreschten?» – «Wollen Sie dazu nicht etwas schreiben?» – «Nein. Sie wissen doch, wie ein Teil der jüdischen Gemeinschaft heute reagiert. Ganz zu schweigen von Reaktionen aus Israel.» Es ist dieser Tenor, der noch mehr Sorge bereitet als der Ausgangspunkt der Debatte und die Frage: Bedroht Israels amtierende Regierung freiheitliche, in vielen Verfassungen verbriefte jüdische Werte? Riskiert sie gar den Bruch mit Juden ausserhalb von Israel? Steht die Nation nunmehr vor dem Judentum? – Fragen, die jetzt vor allem jene mit beantworten sollten, die jahrelang die Parole im Einsatz für die jüdische Minderheit führten und sich mit dem aktuellen Schweigen in den unaufgeschlüsselten Widerspruch begeben. – Es ist Sommerzeit. Auf der Redaktion gehen die Debatten weiter. Doch irgendwann werden sie nicht mehr nur eine mediale bleiben können.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann