Hamburg, November 2024. Wohin soll all dies führen? Wer denkt all die Dinge zu Ende und nicht nur vom Anfang her? Krisen, Konflikte und Kriege überall, die überforderte Politik und Gesellschaft arbeitet sich zunehmend nicht an Lösungen, sondern Stellvertreterkonflikten ab und lässt sich zu oft auf den Krieg der Worte ein. Alles Pogrom, alles Faschismus, alles Rassismus, alles Antisemitismus – alles verschwindet hinter Labeling; Vertiefung, Kausalitäten und Einordnung verschwinden hinter starker Wortwahl und Digitalisierung von Diskursen, die Menschen noch mehr trennen statt an einen Tisch – und sei es nur der Stammtisch – bringen. «Vielfalt ist alternativlos – Kein Rassismus, kein Antisemitismus!» strahlt das farbiges Riesenplakat in Hamburgs St. Georg bei der Aidshilfe gegenüber auf die Zeitungsaushänge am Kiosk. Schlagzeilen zu den Weltkrisen, dem Mob von Amsterdam und die gewalttätige Hetze gegen israelische Fans, in den USA ein Nazi-Mob bei der Premiere einer Theatervorführung von Anne Franks Tagebuch. Auf der Bühne die falschen gelben Sterne an den Jackets der Schauspielerinnen und Schauspieler. Vor der Tür die echten Hakenkreuzfahnen. Überall Anklage gegen Missstände, Verrohung der Gesellschaft, Rufe nach Justiz, Behörden und Stigmatisierung von ganzen Menschengruppen. Wohin soll all dies führen? Wer denkt all die Dinge zu Ende und nicht nur vom Anfang her? Wohin soll all dies führen, wenn vermeintliche Minoritäten militanter werden? Ist der Rückzug hinter Mauern die Lösung, bieten sie den ersehnten Schutz, oder führt die zunehmende Verhärtung durch gewalttätige Sprache zu Gewaltakten? Hätte es die Hetze von Amsterdam ohne Krieg in Nahost gegeben und falls nein: wie kann eine jüdische Gemeinschaft, eine israelische Diaspora-Gemeinschaft mit diesen Realitäten umgehen? Jüdische Organisationen nutzen die Monate, um mehr Geld von Staaten für Sicherheit und Schutz zu bekommen. Wohin soll all dies führen? Wer denkt all die Dinge zu Ende und nicht nur vom Anfang her? Hätte es den Gaza- und Libanon-Krieg ohne den 7. Oktober gegeben, und falls nein: wie kann eine arabische und muslimische Gesellschaft die drohenden Entwicklungen in arabischen Staaten und ihrer Diaspora stoppen? Die Vernunftzeit muss beginnen, sonst werden Wilkür und Populismus Lösungen verhindern. Lösungen sind das Gegenteil von absoluten Wahrheiten. Denn: Wohin soll all dies führen? Wer denkt all die Dinge zu Ende und nicht nur vom Anfang her? Die jüdische Gemeinschaft kann sich nicht auf Waffen, Panzerglas und Staatsgelder alleine verlassen. Zur Emanzipation gehört mehr – auch dann, wenn die Bedrohung von aussen kommt.
Im Thalia Theater steht Wolf Biermann auf der Bühne eines denkwürdigen Liederabends mit jungen Künstlerinnen und Künstlern. Sie singen seine Lieder als politische Manifeste gegen Extremismus und Rassismus. Biermann macht klar: «Mein Vater wurde in Auschwitz ermordet. Die Alliierten haben mich mit ihren Waffen gerettet.» Es wird ein politischer und kein naiver Abend, der mit Biermanns Zeilen endet: «Du, lass dich nicht verhärten In dieser harten Zeit / Die all zu hart sind, brechen Die all zu spitz sind, stechen Und brechen ab sogleich (…) Wir wolln es nicht verschweigen In dieser Schweigezeit / Das Grün bricht aus den Zweigen Wir wolln das allen zeigen. Dann wissen sie Bescheid.» (vgl. S. 10, 12 & 15).
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
DAS JÜDISCHE LOGBUCH
15. Nov 2024
Die Harten brechen
Yves Kugelmann