Das Jüdische Logbuch 22. Nov 2019

Die Diktatur des Patts

Tel Aviv, November 2019. Die Abende sind noch milde bis warm. Immer noch sitzen Tausende in den Gassen in Strassenkaffees und diskutieren munter. Daneben Geschäfte und Galerien, die bis lange in die Nacht geöffnet bleiben. Nicht unerwartet trifft die Nachricht von der erneut gescheiterten Regierungsbildung die Gruppe junger Israeli in einem Atelier im Süden Tel Avivs. Die Ansage von der Kehrtwende der USA in Sachen Siedlungen kam überraschender und war dennoch für die meisten eine logische Konsequenz nach der Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem und der Absegnung von Israels Hoheit über die Golanhöhen. Was als politisches Geplänkel auf Zeit, selbstsüchtige strategische Altmännerspiele oder einfach Abkehr von Grundsätzen wie Zweistaatenlösung, Koexistenz und Vorzeigedemokratie gesehen werden kann, ist weit darüber hinaus eine unfreiwillige mögliche Weichenstellung mit fundamentalen Konsequenzen: Israel entkoppelt sich aus Region, Kultur und Werteskala, oder besser gesagt, Israel wird entkoppelt. Denn die israelischen Bevölkerungen und die jüdischen Gemeinschaften weltweit wollen weder Besatzungssituation, ständige Bedrohung noch einen permanenten Nahostkonflikt zur Realität der Zukunft werden und letztlich eine Art Militärzone zu lassen. Die 
grosse Mehrheit der demokratischen jüdischen Gesellschaften möchte eine Einigung mit 
Palästinensern, einen säkularen demokratisch-rechtsstaatlichen jüdischen und keinen Staat, den sich israelische oder gar ausser­israelische Agitatoren oder Scheindynastien zu eigen machen. Bis vor kurzem rangen Israels Politikerinnen und Politiker mit unterschiedlichen ideologischen Zugängen um die Verwirklichung einer übergeordneten gesellschaftlichen Idee – nun ist Israel ein Spielball von kurzfristigen und fragwürdigen feudalistischen Interessen geworden. Das Paradoxon, dass Israels sehr lebendige Demokratie wie auch jene in England, Belgien und vielen anderen Ländern durch das demokratische Patt geradezu lahmgelegt werden können, ist systembedingt und bedrohlich in Zeiten, da Gesellschaften vital agieren und auf Entwicklungen eintreten sollten. Die Gefahren für Israels Süden und Norden, in einem bedrohlichen geopolitischen Wandel in der Region, gerade auch durch den Rückzug der USA , werden herausfordernder als bisher. Bequemlichkeit kann in solchen Situationen keine Antwort sein. Die jungen Menschen in Yafo orientieren sich längst nicht mehr an der politischen israelischen Tagesrealität. Lethargie kann gefährlich sein und deshalb sind nicht nur die Wählerinnen und Wähler Israels, sondern einmal mehr auch die jüdischen Gemeinschaften in der Welt gefragt, sich massgebend einzubringen.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann