das jüdische logbuch 03. Jun 2022

Der Pergamon-Faktor

Bern, Mai 2022. In einer Schweizer Stadt wird einer orthodoxen Jüdin die Aufnahme in den renommierten Pergamon Club verwehrt. Liberalere Jüdinnen und Juden sind Mitglieder. Die Sache macht Schlagzeilen. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) verurteilt die Ablehnung scharf. – Es war dieser unscheinbare Moment an der Delegiertenversammlung des SIG von Sonntag (vgl. Seite 14), der dem Gemeindebund völlig unerwartet den Spiegel vorsetzte. Nachdem Ralph Lewin einen oberflächlichen Kurzabriss der neuen Verbandsstrategie verlesen hatte, konfrontierte der St. Galler Delegierte Harry Wiener den SIG-Präsidenten mit dem Grundsatzthema, das seit der historischen Bieler DV von 1992 über allen Fragen des Gemeindebunds steht, doch jeweils weit vor sich her geschoben wird: «Eine Strategie muss Sinn machen» sagte er und setzte sie ins Verhältnis zum Vorsatz des SIG nach Gleichberechtigung. Doch wie kann ein Verband mit erhobenem Haupt Gleichberechtigung einfordern, wenn er selbst etwa jüdischen liberalen Gemeinden die Aufnahme in den Verband verwehrt? Die einen werden sagen, das ist Demokratie, die anderen, es sei Ausgrenzung. Zumindest ist es ein Thema, das gerade an einer Delegiertenversammlung offen diskutiert werden könnte, statt nötigen Austausch in einer Flut von Traktanden ohne genügend Zeit zu ertränken. Lewin versuchte mit Humor an der falschen Stelle – der Votant würde ja wohl keine Antwort auf die Frage erwarten – zu kontern und verwies auf das Kooperationsabkommen mit den liberalen Gemeinden, das nach Ablehnung des Antrags der Liberalen auf Aufnahme mit deren Dachverband im Jahre 2004 geschlossen wurde. In früheren Interviews verwies Lewin zur Frage jeweils darauf, dass von Seiten der Liberalen kein Antrag auf Aufnahme vorliegen würde. Doch darum geht es nicht, sondern um die Haltung des Verbands zur Frage der Gleichberechtigung per se auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft – bis heute akzeptiert der Gemeindebund Mitgliedsgemeinden, die Gleichberechtigung von Frauen, deren Mitgliedschaft oder Stimmrecht nicht kennen. Der SIG möchte zwar die Repräsentanz der Jüdinnen und Juden in der Schweiz sein, weitere orthodoxe Gemeinden, gar Auslandschweizer aufnehmen und andere Modelle der Mitgliedschaft prüfen – doch offizielle jüdische Gemeinden bleiben aussen vor. Er möchte alle Jüdinnen und Juden vertreten, wehrt sich gegen deren Diskriminerung und diskriminiert einen Teil der Jüdinnen und Juden selbst. Im bereits letzten Dezember im Centralcomité präsentierten Strategiepapier des SIG (tachles berichtete) wird in Fussnoten darauf verwiesen, dass die Einbindung von Liberalen «kein Thema» sei. Solange dies so bleibt, hat der SIG neben einem Glaubwürdigkeits- ein ethisches und letztlich ein jüdisches Problem. Nach aussen kritisieren und nach innen Schweigen geht schon lange nicht mehr – oder offenbar doch. Dass etwa in Zürich jüdische Kinder aus der liberalen Gemeinden keine einzige der jüdischen Schulen besuchen können, ist eigentlich ein Skandal. Doch der SIG schweigt und macht dieses Schweigen auch im neuen vorgelegten Papier zur Strategie. Schade. Denn die Welt hat sich längst geändert, Glaubwürdigkeit ist noch wichtiger als Quote. Wohlklingende Medienmitteilungen können daran auch nichts ändern, sondern nur die Änderung in der Realität. Der Spiegel steht wieder im Raum und irgendwann sollte eine SIG-Geschäftsleitung der Zukunft erhobenen Hauptes aufrichtig sich selbst ins Gesicht blicken können.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann