das jüdische logbuch 29. Apr 2022

Der Pakt der Demokratien

Nizza, April 2022. Die Frage ist nicht obsolet: Was wäre, wenn am letzten Sonntag Marine Le Pen die Stichwahl bei den französischen Wahlen gewonnen hätte – zwei Wochen nach dem klaren Sieg Viktor Orbáns in Ungarn? Was hätte dies für Europa im Umfeld von Krieg, Inflation, Pandemie und politischen Verwerfungen bedeutet? Welche Kaskade hätte dies ausgelöst? An diesem Morgen diskutieren die Franzosen in den Cafés zwei Tage vor der Stichwahl über Politik. Da ist wenig zu hören von Migrations- oder Asylfragen. Es geht um soziale Fragen, um Pensionsalter und Familienpolitik. Alles ist noch offen, alles ist möglich. Die Stimmung ist lebendig, aber bedrückt, die Wortmeldungen konfrontativ und Macrons letzte fünf Jahre in der Kritik. Das grosse Fernsehduell war ausgeglichener, als vielen lieb sein mochte. Frankreichs extreme Rechte gestärkt, selbstbewusst und angriffslustig. Zwei Tage später dann das grosse Aufatmen – doch es hätte eben auch anders kommen können. Vielleicht hat der Ukraine-Krieg letztlich ein rechtsextremes Frankreich verhindert. Vorderhand. Doch schon rennen alle weiter, nutzen den Moment, anstatt eine Strategie für die nachhaltige Sicherung der liberalen Demokratien Europas zu entwickeln. Denn längst stehen nicht mehr unterschiedliche politische Ausrichtungen zur Disposition, sondern die Demokratie und der Rechtsstaat selbst. Die von Populisten angerufene Volksdemokratie bedroht die repräsentative, die Willkür des politischen Moments torpediert die Substanz der demokratischen Errungenschaften, das dumpfe völkische attackiert die freie Entwicklung von Gesellschaften fernab von Nationalismus und identitärer Zuordnung. Denn der Nationalismus, die Klassendebatten, der Populismus wird im Kern durch den propagierten Rassismus zusammengehalten – immer mehr, immer verschwörerischer und immer virulenter. Das Europa der Zukunft muss in den nächsten vier Jahren gesichert werden. Denn der Sieg Macrons, der Niedergang der AfD in Deutschland, die vereinten demokratischen Kräfte Europas sind nur eine Momentum auf Zeit. Doch wie soll das vonstatten gehen mit einer politisch schwachen EU, mit expandierenden populistischen Kräften, autokratischen Interventionen in Demokratien, eskalierenden digitalen Welten? Mit Vernunft? Unbedingt. Die heranwachsende Generation ist vernünftiger, intelligenter, wachsamer. Die Stabsübergabe steht bevor. Doch reüssieren kann sie umso mehr, wenn ein gesundes Europa übergeben wird mit soliden Demokratien und sozialer Absicherung. Der grosse Pakt der Demokratien muss mit der gleichen Wucht angegangen werden, wie nach dem Zweiten Weltkrieg die Zukunft eingeläutet wurde und dann zu rasch in der Prosperität vergessen ging. Damit in Europas Kaffees, an Stammtischen, auf digitalen Plattformen die Stärkung und Sicherung von Demokratien und nicht deren Abschaffung verhandelt wird.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann