Das Jüdische Logbuch 13. Jul 2018

Der kategorische Konjunktiv am Bosporus

Istanbul, Juni 2018. Was, wenn die Türkei Mitglied der Europäischen Union wäre? Es ist Sonntagnachmittag. Am Flughafen Atatürk strömen Menschen aus aller Welt zusammen. Aus Nahost, Asien, Afrika, Osteuropa, Russland. Ein Sprach- und ethnisches Gewirr. Wenige Europäer, kaum Amerikaner. Die Strasse nach Istanbul ist alle zehn Meter mit Flaggen von Recep Tayyip Erdogan behängt. Sie kündigen die pompöse Inauguration des wiedergewählten türkischen Präsidenten Erdogan am Tag danach in Ankara an. Eine eines Sultans würdige Inszenierung. Am Vormittag noch hat er über 18 000 Mitarbeiter der Verwaltung entlassen und Zeitungen geschlossen. Immer noch sind die Notstandsgesetze in Kraft. Erdogan transformiert sich zusehends zu einer narzisstischen, egomanischen, von der Wirklichkeit abgeschotteten Figur, wie sie die Weltliteratur in Werken der griechischen Tragödie bis Shakespeare so fantastisch vorwegnimmt. Die Herrscher, die sich mit zunehmender Macht isolieren und in Paranoia voller Vertrauensverlust in Umfeld und Volk aufgehen. Was bei König Lear Edmund oder Oswald sind, ist Fethullah Güllan bei Erdogan.

Was, wenn die Türkei Mitglied der Europäischen Union wäre? Es ist ruhiger als sonst in der Metropole. Die sonst so pulsierende, explodierende Stadt hat sich verändert. Wo einst alternative, trendige Kaffees rund um die alte Hauptstrasse İstiklal Caddesi waren, wo einst Nacht für Nacht gefeiert, wo einst diese Kultur des Sinnlichen offenbart wurde, sind heute traditionelle lokale, Schesch Besch oder Shisha-Pfeifen. 2011 begann der Wandel, den Politologen heute sich zu erklären bemühen. Damals begann der Bruch, der so offenbar wird am Ufer des Bosporus und der auf einmal mehr ist als die Symbolik entlang tektonischer Grenze zweier Kontinente. Die Dämmerung zieht ein. Der Blick von der europäischen richtet sich hinüber auf die asiatische Seite. Im untergehenden Sonnenlicht glänzt die gigantische neue, noch namenlose Mosche, die Erdogan bauen lies. Irgendwann wird sie wohl nach ihm benannt werden und für seine Umkehr stehen. Die Umkehr von 2011, nachdem er mit einer gewieften List langsam das Militär entmachtet und die Fraktionen so formiert hat, dass der Terror ihm nicht bedrohlich und selbst der Putsch vom letzten Jahr ihm nicht wirklich gefährlich werden konnte.

Was, wenn die Türkei Mitglied der Europäischen Union wäre? Tags darauf am Ufer des Bosporus am Fusse auf einer Terrasse der Bahçeşehir-Universität halten sich die Professoren zurück mit politischen Diskussionen. Unausgesprochen ist es da. Dieses bvedrohliche Potenzial der Veränderung, die sich vor aller Augen abspielt. Alle wissen darum. Atatürk zog einst einen Strich unter das Osmanische Reich, änderte die Schrift und führte den Säkularismus ein. Das laizistische Land war in der Balance von Militär und Politik. Lange war Erdogan irgendwie noch in dieser Tradition verhaftet. Bis 2011 die Abkehr, der radikale Wandel, der Grössenwahn kam, Religion übernahm. Das mondäne Leben in einer offenen Gesellschaft war in der eingeführten Form vorüber.

Was, wenn die Türkei Mitglied der Europäischen Union wäre? In der Türkei leben 16 000 Juden. Der Gemeinschaft geht es insgesamt gut. Die beiden verheerenden Anschläge auf die Synagoge Neve Schalom von Istanbul liegen schon weit in der Vergangenhei. Abe analysiert die Situation gelassen und scharf zugleich. Er ist einer der wichtigen Unterstützter der jüdischen Gemeinschaft. Es gebe wenig Antisemitismus. Regelmässig steigt er in Polemiken gegen Israel wieder an. Virulent ist Abe selten. Die Regierung unterstützt pragmatisch die jüdischen Gemeinden. Und doch trauen viele Juden Erdogan nicht und fürchten das Potenzial dessen, was da noch kommen könnte. Ein Potenzial, das der irgendwie und doch nicht demokratische Despot immer wieder aufblitzen lässt. Soeben ist das Jüdische Museum erneuert worden, die Staat finanzierte die älteste und wunderbarste Synagoge der Türkei im Norden. Es gibt ein jüdisches Spital, viele Schulen, Synagogen, ein Altersheim und eine beeindruckende jüdische Tradition. Abe ist selbst mit seinem Firmenimperium einer der grössten Arbeitgeber in der Türkei. Er glaubt, dass die sich abzeichnende wirtschaftliche Krise länger dauern wird als in der Vergangenheit und Erdogans Weg und Macht brechen könnte. Abe hat vor drei Jahren den spanischen Pass angefordert, wie es nach einem Dekret durch die spanische und portugisische Regierung als Kompensation für die Vertreibung von sephardischen Juden 1492 möglich war. Er möchte keinesfalls weg aus Istanbul. Er liebt Land, Leute, Leben. Doch er weiss, wie schnell sich die Situation ändern kann, wenn etwa die von der Regierung geduldeten Mobs aufbegehren. Abe denkt kritisch, spricht offen und furchtlos. Erdogan hätte sich an der DNA der Türkei zu schaffen gemacht, indem er das Erziehungssystem vom offenen zum religionsdominierten System wandelt. Sein gegenüber, der jüdische Funktionär, verteidigt die amtierende Regierung und würdigt ihre Solidarität mit Juden. Stolz verweist er darauf, dass vor wenigen Stunden die Vertreter der jüdischen Gemeinden sowie der Oberrabbiner in Ankara prominent vertreten waren. Kritische Fragen wiegelt er ab. Alles gut. Und was ist mit der Anerkennung des armenischen Völkermords? Der Funktionär muss weiter an diesem mondänen Abend in einem privaten Haus eines der bekanntesten Anwälte auf einer Terrasse mit Blick auf den Bosporus. Längst ist es Nacht geworden. Die Lichter funkeln im Wasser, die Brücken nach Asien strahlen rot beleuchtet in der Nacht.

Was, wenn die Türkei Mitglied der Europäischen Union wäre? Die Türkei hat bereits über 3,5 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen. Wenige leben in Flüchtlingslagern entlang der syrischen Grenze, die meisten in Istanbul mitten in der Gesellschaft. Seit 2015 ist der Deal mit der Europäischen Union in Kraft, wie ihn die Deutsche Bundeskanzlerin Angel Merkel federführend ausgehandelt hatte. Über 300 syrische Babys sind in der Türkei geboren, 620 000 syrische Kinder gehen in der Türkei zur Schule. Dazu kommen rund eine Million Flüchtlinge vorwiegend aus Eritrea, Jemen, Afghanistan. Während Deutschland und Europa an der Flüchtlingsfrage in den letzten Wochen politisch fast zerschellte, ist es in der Türkei vergleichsweise ruhig.

Was, wenn die Türkei Mitglied der Europäischen Union wäre? Was, wenn die Türkei und Israel ihre strategische Allianz nicht aufgebrochen hätten? Was, wenn die Türkei als von Angela Merkel geforderter privilgierter Partner einst das Dubliner Übereinkommen, später das Europarecht und letztlich das Schengener Abkommen auch für sich übernommen hätte? Die geopolitische Konstellation in der wenig ausbalancierten Situation zwischen den Weltmächten USA und Russland, Iran, die wirtschaftliche Stärke der einst so aufstrebenden Volkswirtschaft, das politische Machtspiel, das Gleichgewicht Europas wäre heute ein anderes. Minderheiten- oder die Rechte von Kurden, Religion sowie Freiheits- und verbriefte Verfassungsrechte würden wohl nicht oder weniger bedroht und Europa eine gewichtigere, stabilisierendere Macht sein. Der Konjunktiv könnte sich als grösste verpasste Chance, vielleicht als grösster Fehler des Nachkriegseuropas darstellen. Ein Fehler, vor dem der einstige deutsche Aussenminister Joschka Fischer frühzeitig gewarnt hatte. Der Joschka Fischer, der die Intervention im Balkan möglich machte, Israels Position in Deutschland und die Partnerschaft innerhalb der Nato stärkte, früh vor der dumpfen Agenda Donald Trumps und somit vor der Zersplitterung friedenserprobter Allianzen warnte. Die tiefblaue Nacht widerspiegelt sich im Wasser und mit ihr die Grenze der Kontinente, als ob der Konjunktiv diese Grenze nicht überschreiten mochte zur klaren Antwort im Angesicht der kategorischen Wirklichkeiten.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann