Berlin, August 2021. Die Kastanienallee am Prenzlauer Berg geht ab von der Zionskirche Richtung Schönhauser Allee. Hell erleuchtet «Freizügigkeit für alle Menschen! Abschottung und Abschiebungen sind tödlich!» an einem der alten Häuser. Neben an Gedenkorte mit Namen der Deportierten. Spaziergänge durch Berlin sind Spaziergänge durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Immer wieder. Die jüdische darin. Namen von Strassen, Orten, Cafés erinnern unentwegt und versprühen diesen Hauch von etwas, das einst zerstört, heute nicht mehr da und nur noch leblose Nostalgie ist. Geblieben sind die Namen. Namen von Menschen. Was ist der Mensch – sein Denken, das Wesen, die Gefühle, der Körper, die Taten, die Namen? Alberto Giacometti sagt: der Blick. Der grosse Porträtist, Bildhauer und Beobachter erfand, ja schöpfte die Menschen neu. Wie alle grossen Künstlerinnen und Künstler Menschen neu schöpfen, erfassen, verstehen. Giacomettis aufrechte Skulpturen und Porträts sind derzeit in der Fondation Maeght in St. Paul de Vence präsentiert. Zusammen mit dem Werk seiner Familie, des Vaters Giovanni, des Bruders Diego, des Onkels Bruno, des Cousins Augusto zeigt das Museum eine beachtliche Retrospekive des kreativen losen Familienverbunds. Sehenswert allemal. Im Zentrum der Mensch. Vereint - im Midi. In Camus’ Sonnentempel, stehen Giocomettis erstarrte aufrecht laufende Männer- und stramm aufrecht stehende Frauenfiguren – und harren der Interpretation. Die ohne die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht geschehen kann. Die ausgemergelten Körper sind eben mehr als pure Kunst. Zeugnis einer menschlichen Tragödie. Der lebloslebendige Blick in Giaccomettis Werk schafft die Menschen. Natur schafft Kultur, Kultur prägt Gesellschaften, der Mensch macht Kultur. Natur, die derart bedroht ist, dass sie wiederum Menschen bedroht. In ihrer Existenz, Kultur, Natur. Diese Monate werden entscheidend sein für politische Entscheide. Der Midi ist ebenso bedroht wie es viele Weltgegenden und die Menschheit sind. Die Bronzestatuen Giocomettis harren der knallenden Sonne. Grazil, schlank, aufrecht ragen die Menschen auf dem breiten Sockel, einfüssig gen Himmel. Der Blick klar, vorwärts, unverrückbar. Die Kunst wird bleiben. Doch der Mensch?
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Das jüdische Logbuch
13. Aug 2021
Der Augen-Blick am Midi
Yves Kugelmann