das jüdische logbuch 20. Sep 2024

Das liberale Missverständnis

Frankfurt, September 2024. Die Tür geht auf, und man ist in einer anderen Welt der Gastfreundschaft, des Umgangs mit Menschen und so fort. Das persische Restaurant in Frankfurts Nordend ist nach einem Dorf bei Istvan benannt. Eine kleine Oase. Eine, die so im Widerspruch mit dem politischen Iran von heute der letzten Jahrzehnte steht. Ein Abend mit Schriftsteller, Diplomat und Politikerin. Derweil die Nachrichten vom israelischen Coup gegen die Hisbollah reinrasseln. Es ist die nächste Wendung in einem Jahr voller Wendungen in Nahost, in dessen Zentrum auch der Iran steht. Grenzen werden permanent ausgelotet, die Eskalation ist greifbar und dann wieder nicht. Was bedeutet heute liberal? Diese so oft missbrauchte, unverstandene Floskel, unter der alle etwas anderes verstehen und sich daher immer darauf einigen können. Als ob die Frankfurter Schule – diese Denkschule zwischen kritischer Gesellschaftstheorie und Liberalismus – eine Stadt verpflichtet zu Integrität, Offenheit und Behutsamkeit, hat sich Frankfurt zu einer kleinen Wirtschafts- und Kultur-Metropole gemausert. Ein jüdisches Zentrum war die Stadt seit der Emanzipation. Frankfurts jüdische Gemeinde der Gegenwart ist eine Vorzeigegemeinde, vereint liberale, traditionelle, orthodoxe Jüdinnen und Juden unter einem Dach. Eine Gemeinde ohne Skandale, von denen es nicht wenige gibt in einem Land, das sich mit viel viel Geld jüdische Gemeinden hält und ein System der De-Emanzipation regelrecht fördert. In jeder Hinsicht. Frankfurt ist eine Einheitsgemeinde mit drei verschiedenen Minjanim und Rabbinern bzw. mit einer Rabbinerin. Ende Monat stehen Gemeinderatswahlen und die Frage an, wer neuer Vorsitzender wird. Der amtierende Vorsitzende Salomon Korn hat seinen Rücktritt angekündigt nach jahrelangen Verdiensten für die Gemeinde. Marc Grünbaum und Alon Meyer haben unter den Kandidaten für die 17 Sitze Ambitionen fürs Präsidium angemeldet. Die Teams investieren viel in die Kampagnen. Eine Gemeinde, die viel jungen Nachwuchs hat, nicht überaltert ist. – Inzwischen hat die Hisbollah die nächste Welle getroffen. Das Netz feiert den zweiten Schlag wie den ersten Coup, während sich andere fragen, was danach kommt, was all dies zu bedeuten hat und wohin das Führen wird. Wenige Tage vor der Uno-Generalversammlung rüstet auch die Nahost-Diplomatie auf, Zeichen werden gesetzt, Forderungen gestellt, Initiativen angekündigt. Was würden wohl Theodor W. Adorno und Max Horkheimer im Exil zu den Entwicklungen sagen? Wie soll sich Europa, der sogenannte Westen zu diesem Konflikt verhalten? Für viele sind die Antworten ganz klar. Antworten, die derzeit in eine Abspaltung, Verhärtung und Radikalisierung führen, die den Zeitpunkt des Unumkehrbaren irgendwann überschreiten werden. Die Realität ist unwirklicher geworden und beginnt sich zu entkoppeln von der Lebenswirklichkeit vieler Menschen, da Alltag und Nachrichten kaum mehr zueinander finden wollen. Wo also führt das alles hin und was ist liberal? In der Vorrede zur Dialektik der Aufklärung schreiben Adorno und Horkheimer: «Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.» Nach der Aufklärung kam Auschwitz. Nach Auschwitz kam der grosse Frieden – der nun wieder überall bedroht ist. Bedroht auch durch die Willkür einer Situation, in der niemand mehr so genau weiss, wer eigentlich wo im Cockpit sitzt und mit welchen Interessen. Konflikte richtig lesen ist immer schwerer geworden. Doch genau diese entscheidende Disziplin ist es, die über Weichenstellungen im Jetzt für das Übermorgen bestimmt. So wie die Spurenleser, die einst über Existenzen entschieden haben, wenn ein neuer Weg eingeschlagen werden musste.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann