Das Jüdische Logbuch 07. Dez 2018

Das anders gleiche Judentum

November, Lausanne, Genf 2018. Das Café Grancy unweit der Synagoge in Lausanne ist eine Neuentdeckung. Gegen Abend treffen sich dort junge und alte Menschen nach der Arbeit. Mittendrin sitzt Michel. Geboren in Marokko und verheiratet mit einer Marrokanerin. Er lebt seit 1962 in Lausanne und ist ein typischer Vertreter des Maghreb-Judentums, wie es so viele gibt in der Romandie, der jüdischen Gemeinschaft in Europa und Israel. Rund 600 000 sind in den Jahren nach der Gründung des Staates Israel bis in die Mitte der 1960er-Jahre nach Europa und Israel emigriert. Aus Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen. Hinzu kamen jene aus Ägypten, Libanon und anderen Ländern. Der Blick auf die jüdische Migrationskarte zeigt, wie stark das sephardische Judentum weit über die südlichsten Landkarten Europas von Thessaloniki, Venedig bis Südfrankreich hinaus historisch und im letzten Jahrhundert Fuss fasste. Das öffentliche Bild von Jüdinnen und Juden prägen allerdings aschkenasische und dann meist die chassidisch geprägte orthodoxe Juden. Michel erinnert sich an seine Kindheit in Marokko. Aufgewachsen ist er in einem Dorf unweit von Rabat, er arbeitete für jüdische Auswanderungsorganisationen und machte sich dann selbst nach einem kurzen Aufenthalt in Israel auf nach Europa. Das sephardische Judentum war anders betroffen von Schoah und Antisemitismus und kennt ein Narrativ, das sich in vielen Belangen von jenem aschkenasischer oder deutscher Juden unterscheidet – weit über Liturgien, Rituale oder Quellen hinaus. Die orientalische Kultur, in der das sephardische Judentum über Jahrhunderte aufgegangen ist, bleibt bis heute integraler Bestandteil des sephardischen Alltags. Michel sinniert darüber, und immer wieder taucht die Nostalgie an die Kindheit, an das einst so blühende jüdische Leben vor der Auswanderungswelle auf. Michel erzählt davon, das sephardische Juden immer noch die grosse Mehrheit der Jüdinnen und Juden in den jüdischen Gemeinden von Lausanne und Genf ausmachen. In Lausanne allerdings ist der Gebetsritus aschkenasisch. Tags darauf in Genf bei Mincha sitzen zwei ältere Herren auf der Hinterbank und sprechen arabisch miteinander. Freunde seit eh und je. Der eine aus Libyen, der andere aus Tunesien. Das Projekt einer eigenen tunesischen Synagoge für Genf sei im Moment vom Tisch. Jahrelang war sie in der Diskussion, nachdem die libanesischen Juden in Genf mit Hekhal Haness seit Mitte der siebziger Jahre ein Gemeindezentrum geschaffen haben. Für Michel neigt sich der Abend zu Ende. Er macht sich auf zum Abendgebet mit einer Umarmung, wie sie unter Sephardim üblich ist.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann