Paris, März 2023. Der Paradeplatz, Zürich wirkt an diesem Montagmorgen noch unwirklicher als sonst schon. Am ehemaligen Savoy prangert gross «Au revoir Paradeplatz» und gegenüber verabschiedet der Bundesrat die Credit Suisse ins Nirvana. Rund fünf Fernsehteams stürzen sich auf Passanten und Mitarbeiter– dokumentieren die Selbstzerlegung des Monopolyplatzes auf lange Zeit in Realtime. Der Glanz von Paradeplatz und Bahnhofstrasse ist weg und hat sich als das entlarvt, was sie sind: gefühlskalte Symbole ohne Sinnbezug. Langsam dämmert die Realität durch – Zehntausende von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bangen zuerst um ihre Boni und dann um ihre Stelle. Das Endspiel am Paradeplatz wird die Schweiz wohl gut überstehen. Wie immer. Doch der Entscheid der Nato ein paar Tage später gegen stärkere militärische Kooperation mit Verweis auf die eidgenössische Haltung im Ukraine-Krieg verdeutlicht die Isolation. – Zwei Tage später. Der Uhrturm am Gare de Lyon glänzt frisch geputzt. An den Strassenrändern türmt sich der Abfall und erinnert an die Barrikaden der Revolution. Der Wind fegt heftig durch die Strassen, wie ein schweigender Epilog zu diesen bewegten Tagen. Das Wolkenspiel am Himmel gleicht Beschreibungen von Maupassant. Das Wasser der Seine tanzt regelrecht. 100 Jahre alt wäre der Pantomime Marcel Marceau geworden. Als ob er schweigend zurufen wollte, das der Widerstand ohne Worte vielleicht doch effektiver ist, drängen die Menschen gegen die Sturmböen über die Brücke ans andere Ufer. Marceau nannte die Pantomime die «Kunst der Haltung». Der Widerstandskämpfer aus Strassburg meinte das durchaus im doppelten Sinne des Wortes, mit Verweis auf die Spannung in Körper und Politik. Die leeren Worte der Politiker, der Funktionäre, der Autokraten, der Lügner werden immer gefährlicher in diesen Tagen. Wohin sie führen können, zeigt die Geschichte tausendfach in diesen Tagen beim Spiel mit dem Feuer durch die israelische Regierung oder in den USA bei der Aufarbeitung der Vorgänge zum Sturm auf das Capitol. Die leeren Worte der Verführung, die die schamlose Lüge vor sich herträgt. Diese Männer fahren Demokratie, Freiheit, Redlichkeit kumuliert an die Wand. Staats-, Wirtschafts-, Banken- und täglich neue Krisen mit verursacht und verschärft durch Täter, die fast nie vor Gericht stehen, aber Hunderttausende von Opfern nach sich ziehen werden. Die Verachtung gegenüber Zehntausenden von Mitarbeitern, die Selbstsucht in einem System das, wachstumsgetrieben, mit Treffsicherheit für das Falsche in die falsche Richtung geht. Raum für Reflexion wird kleiner. Die Proteste auf Strassen grösser. Marceaus schweigendes Schreien findet an diesem Abend eine ganz andere Fortsetzung. In starken Worten gegen die Diktatur und für die Freiheit. Geistreich, poetisch, klar, hochpolitisch. Der deutsch-deutsche Liedermacher Wolf Biermann begegnet im Heine-Haus von Paris Heinrich Heine. Biermann erzählt von seinem Zwiegespräch mit dem emigrierten Dichter an seinem Grab am Friedhof von Montmartre. Der eindringliche Dialog legt die Mechanismen zwischen Hoffen und Scheitern offen. Die Dichter ringen um die richtigen Worte, Deutungen und Erklärungen. Sie ringen um Deutschland und Europa. Sie liefern geradezu die Matrix für die Gegenwart, ohne über sie zu sprechen. Denn Mechanismen der selbst verschuldeten Unfreiheit wiederholen sich immer wieder in anderer Form. Literatur rettet die Wirklichkeit in die Zukunft. Wie Biermann wanderte auch Heine aus politischen Gründen aus Deutschland aus. Er unterstützte nach seiner Auswanderung im Jahr 1831 nach Frankreich die seit der Julirevolution von 1830 entstehende Entwicklung. Er sah die Französische Revolution als noch nicht verwirklicht an und wollte seine eigenen Ideen umsetzen auf dem Weg zur Republik der Kunst, der Freiheit des Geistes und der Befriedigung materieller Bedürfnisse. In Heinrich Heines Wintermärchen heisst es: «Wir wollen auf Erden glücklich sein, / Und wollen nicht mehr darben; / Verschlemmen soll nicht der faule Bauch, / Was fleissige Hände erwarben. / Es wächst hienieden Brot genug / Für alle Menschenkinder, / Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust, / Und Zuckererbsen nicht minder. / Ja, Zuckererbsen für jedermann, / Sobald die Schoten platzen!» Paris und viele andere Städte stehen aktuell wieder für den Freiheitskampf – teils mit anderen Vorzeichen und neuen Bedrohungen. Und Biermann schliesst seinen Abend mit einem Zitat von Karl Farkas: «Der Kommunismus ist eine gewaltige Idee, die nur den Nachteil hat, dass sie sich verwirklichen lässt.» Danach singt er die «Ermutigung»: «Du, lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit …» Es ist spätabends. In der Bibliothek im Heine-Haus sitzen Studentinnen und Studenten. Biermanns Lieder hallen nach, das Publikum verlässt beeindruckt den Campus. Im Radio kündigen sich die grossen Donnerstagsmanifestationen an nach Präsident Emanuel Macrons erstem Interview nach dem knapp entgangenen Misstrauensvotum im Parlament. Der Nachthimmel ist klar, die Temperatur mild. Die Müllbarrikaden an den Seiten der Boulevards wirken in der Nacht wie Skulpturen. Der Kampf um die Menschheit hat wieder neu begonnen.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
24. Mär 2023
Barrikaden gegen die Wirklichkeit
Yves Kugelmann