Das Jüdische Logbuch 17. Aug 2018

Alt-neue Gemeinde

Leipzig, August 2018. Der Spaziergang durch die Stadt offenbart rasch eine Geschichte hinter der Geschichte. Jüdische Strassennamen, Bürgerhäuser, an denen Tafeln an die ehemaligen jüdischen Besitzer erinnern, alte Schriftzüge an Häusern und Geschäften mit Verweisen auf jüdisches Leben. In Leipzig gab es nach der Schoah keine Juden mehr. Die einst so traditionsreiche Stadt avancierte mit einem Schutzbrief von 1710 des Kurfürsten August des Starken an einen Hamburger jüdischen Kaufmann und dann schliesslich mit der Emanzipation der Juden zu einem Zentrum für die Juden in Sachsen, nachdem die Stadt über die Jahrhunderte Kaufleute angezogen hatte. 1925 zählte die jüdische Gemeinde rund 13 000 Juden. Darunter viele Unternehmer. Leipzig entwickelte sich zum Zentrum der Pelz- und der Verlagsbranche, hatte sechs zum Teil bedeutende Synagogen und jüdische Schulen. Heute steht nur noch die Brodyer Synagoge und damit ein markantes Beispiel für Vernichtung und Entstehung. Die jüdische Gemeinde Leipzig zählt 1300 Mitglieder. Russische Kontingentflüchtlinge letztlich brachten jüdisches Leben in eine Stadt zurück, obwohl nach der Schoah oder dem Fall der Mauer niemand mehr geglaubt hätte, dass die leere Synagoge oder die jüdischen Orte jemals mehr als Erinnerungsorte sein würden. Am Schabbatmorgen ist die Synagoge gut besucht. Sie wird nach aschkenasischem Ritus geführt. Ein offener Ort für Gäste, die man dort selten sieht. Anschriften und Hinweis figurieren zuerst auf Russisch. Die betenden Männer sind zwischen 30 und 60 Jahre alt. Überall begegnet einem das Logo «Zusammen leben wir bunter». Ein Credo, das sich durch die Stadt zieht mit vielen Aktionen gegen rechts, für gelebte Vielfalt und eine Offenheit, die der politische Diskurs über das ehemalige Ostdeutschland selten freigibt. Unweit der Synagoge liegt das Gemeindehaus. Alles wirkt unaufgeregt. Eine real existierende jüdische Gemeinde, gut besucht, mitten in der Stadt, mit leichtem Zuwachs. Und durchaus eine Gemeinde mit Zukunft, begründet durch Menschen, die gekommen sind, um zu bleiben. Wie so oft in Deutschland nach der Wende, wo sich trotz aller Debatten, Kontroversen und Integrationsherausforderungen ein jüdisches Leben wieder etabliert und neu erfunden hat. All dies steht im Kontrast zu den Debatten rund um die Entwicklung und Zukunft der jüdischen Gemeinden in der Schweiz, in denen zu oft separatistische anstatt integrative Ansätze eine andere Vielfalt jüdischer Gemeinden etablierten. War die Einheitsgemeinde einst eine Mitte für alle, haben sich neben den Austrittsgemeinden viele Satelliten oder eben progressive andere Formen etabliert, die neben inhaltlichen, gesellschaftlichen vor allem auch ökonomische Fragen und Grenzen aufzeigen. So sehr Deutschlands vom Staat subventioniertes revitalisiertes Judentum wenig mit der unabhängigen Form des teilweise alteingesessenen Schweizer Judentums zu vergleichen ist, so sehr manifestiert sich der Zugang zur Religion auch in unterschiedlichen Begriffen: «Begegnungszentrum» steht am Gemeindehaus und auf der Website der Leipziger Gemeinde.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann