Zürich, August 2019. Jüdische Existenz in Europa schwankt oft zwischen «Juden werden bezahlt, damit sie Gemeinden und Präsenz aufbauen» (z. B. Deutschland) oder «Juden bezahlen selbst, damit sie präsent sein können» (z. B. Schweiz). Letzteres hat fand in der Schweiz unter anderen Vorzeichen seinen Höhepunkt, als während des Holocaust jüdische Flüchtlinge in der Schweiz von Juden finanziert werden mussten, später die Koscherfleischversorgung durch Strafzollzahlungen ermöglicht, für Sicherheitsvorkehrungen für jüdische Institutionen selbst aufgekommen werden musste oder jüdische Museen hauptsächlich jüdisch finanziert werden müssen (vgl. Seite 12). Soll es so oder muss es anders sein? Eine spannende Debatte, die eigentlich offen geführt werden könnte, wenn es denn um jüdische Fragestellungen eine solche offene Debatte geben könnte. Doch in diesen Tagen entspringen Judenschlagzeilen einmal mehr nicht einer aufgeklärten Diskussion wie etwa jener um das Jüdische Museum Berlin vor wenigen Wochen, sondern aufwendiger Lobby-Arbeit. Da wird im Hintergrund herumgeschachert mit Informationen, die von Kommunikationsabteilungen auch jüdischer Organisationen ge- und verhandelt, Redaktionen angetragen oder Primeure zugeschoben werden. Kreiert wird ein öffentliches Juden-Bild, das weniger mit der Realität als mit der Konstruktion eines falschen Abbilds zu tun hat und jeweils vorgeprescht wird. Denn Lobby-Organisationen messen ihre «Leistungen» weniger in anders messbaren Erfolgen denn in der Anzahl Presseerwähnungen, Internetclicks und Social-Media-Aktivitäten. In den letzten Wochen etwa, wenn es um das Thema orthodoxe jüdische Touristen im Engadin oder um ein sogenanntes Jüdisches Museum von Zürich geht (tachles berichtete). Dass der ohnehin real existierende Antisemitismus zusätzlich von kritischen Reaktionen auf Tausende von meist ausländischen orthodoxen jüdischen Touristen im Engadin flankiert wird, betrachten die einen als steigenden Antisemitismus und die anderen als legitime Reaktion. Mit der vermeintlichen Aufklärungskampagne katapultiert der SIG – der eigentlich vorwiegend Einheits- und nicht orthodoxe und schon gar nicht ausländische orthodoxe Gemeinden repräsentiert – eine teils jüdisch fundamentalistische Fraktion in den öffentlichen Raum und wundert sich, wenn er kritische oder gar antisemitische Reaktionen mit fördert, die er dann im nächsten Programm wieder bekämpfen kann. So macht man sich nicht ganz überflüssig, aber doch irgendwie wichtig. Wichtiger allerdings wäre die Frage: Wie ist jüdisches Leben in der Schweiz auf Augenhöhe möglich? Sicher nicht mit Stolz auf ein jüdisches Mini-Museums in der Stadt Zürich, dass nur durch jüdische Finanzierung möglich wird. Denn Juden brauchen keine Jüdische Museen – allenfalls die Gesellschaft.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Das Jüdische Logbuch
30. Aug 2019
Ablasshandel und Ghetto-Lobbyismus
Yves Kugelmann