das jüdische logbuch 28. Jan 2022

364 Tage Einsamkeit

London, Januar 2022. Die Sonne scheint auf den Hide Park, der Himmel ist klar, die Luft kalt, während am Speakersʼ Corner die Pandemie verhandelt wird. Von skurril bis geistreich ist alles dabei – und natürlich auch absurde historische Vergleiche. Aufgemuntert werden die Debattierenden mit Einwürfen zur Regierungskrise um den wankenden Premier Boris Johnson. Wenige Meter entfernt bittet der britische Erziehungsminister zu Tisch. Ein beeindruckender Mann mit pakistanischen Wurzeln, entschlossen im Kampf gegen die Pandemie und für die Freiheit von Schülerinnen und Schüler. Am Tisch sitzen zwei Schoah-Überlebende. Die beiden Damen unterhalten sich beschwingt über dies und jenes. Die eine hat Auschwitz überlebt, die andere Ravensbrück und Bergen-Belsen. Und natürlich erzählen sie von jüngsten Besuchen tags zuvor in Schulen. Zeitzeuginnen, die wöchentlich Schülerinnen und Schüler Red und Antwort stehen zur Schoah und zu ihrem Leben und den jungen Mut zusprechen. Beschwingte, spannende Gesprächspartnerinnen mit klaren politischen, gesellschaftsliberalen Ansichten, nicht resigniert, aber ab und an konsterniert über den Verlauf politischer Debatte oder den Umgang mit Vergangenheit. Beide haben auch am gestrigen internationalen Gedenktag zum Holocaust an Veranstaltungen gesprochen. Der Tag, an dem ritualisiertes, zeremoniales Gedenken Politikerinnen und Politiker fordert, in der Hoffnung, dass an den anderen 364 Tagen des Jahres mit dem nötigen Geschichtsbewusstsein, mit dem Blick für die Konflikte der Gegenwart umsichtig Politik betrieben wird. Und heute, am Tag danach? Die beiden Holocaust-Überlebenden ziehen abseits von Kameras, medialer Stilisierung durch die Lande wie so viele andere weltweit auch. Hochbetagt, motiviert rollen sie den Stein auf den Berg und hoffen, dass er nie mehr herunterrollt. Mit der Kraft der Überzeugung, dass sie etwas beitragen können zum künftigen Frieden in der Welt, mit der Hoffnung, dass es nie wieder geschehen kann, und mit dem fragilen Bewusstsein, dass doch immer alles möglich sein wird.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann