Der Erste Weltkrieg erschütterte den Dichter Rilke zutiefst – er korrespondierte darüber 1915 mit Freud, doch auf die Couch legen wollte er sich nicht.
Das grosse und lange Rilke-Jahr, das auf den 150. Geburtstag des Jahrhundertdichters Anfang Dezember 2025 zuläuft und erst mit dem Gedenken an Rilkes Tod im Sanatorium Valmont bei Montreux im Dezember 1926 schliessen wird, hob an mit einer kleinen Sensation: den bislang unbekannt gewesenen und nun publizierten Briefen, die Rainer Maria Rilke (1875–1926) und Sigmund Freud (1856–1939) im Weltkriegsjahr 1916 wechselten. Was hatten sich der Begründer der Psychoanalyse und der heute weltweit berühmteste Poet deutscher Sprache damals zu sagen?
Persönlich begegnet waren die beiden einander im Jahr vor Ausbruch des Krieges, füreinander Unbekannte waren die beiden Granden des Kulturlebens damals aber keineswegs: Freuds Sohn Ernst, angehender Architekt und später der Vater des Malers Lucian Freud, war ein begeisterter Rilke-Leser. Umgekehrt war Rilkes Einstellung zu Freuds Methode jedoch die eines Skeptikers. Daran änderte auch die weltgewandte Freud-Schülerin Lou Andreas-Salomé, Rilkes einflussreiche Gefährtin, nichts. Sie war eine aus St. Petersburg stammende Generalstochter, die 1880 nach Zürich gezogen war, um unter anderem Vorlesungen zu Theologie und Philosophie zu hören. Als der junge Rilke, auf der Suche nach Kontakten in die literarische Szene, sie im Mai 1897 in München kennenlernte, umgab die 36-Jährige bereits ihre divenhafte Aura der umschwärmten, aber unnahbaren Schriftstellerin. An ihr hatten sich Männer wie Nietzsche und dessen Philosophen-Freund Paul Rée die Zähne ausgebissen (das berühmte Peitschen-Foto von 1882 zeigt das Trio in einem Luzerner Studio).
Und nun Rilke. Bald nachdem er mit Lou und ihrem Ehemann nach Russland gereist war, kühlte die Beziehung ab, bis Rilke, welcher seit 1901 mit der Bildhauerin Clara Westhoff verheiratet war, wieder Kontakt zu ihr suchte und ihr seine Nöte schilderte. Lou, die sich, auch bewogen durch ihre Auseinandersetzung mit Rilke, ab 1912 bei Freud zur Analytikerin ausbilden lassen würde, drängte ihren leidenden Dichterfreund indes nicht zu einer Psychoanalyse: Analyse könne der Kreativität, der künstlerischen Produktivkraft abträglich sein. Rilke gelangte zu der Auffassung, Analyse hätte für ihn «nur Sinn», wenn er gerade nicht mehr schreiben wollen würde. Er wollte aus Leben «wahre Kunst» werden lassen.
«Auf einen Bissen» bei Freud
Rainer Maria Rilke hörte Genaueres über Psychoanalyse wohl um 1909 in Paris durch Gespräche mit Viktor Emil Freiherr von Gebsattel – Psychiater, Psychotherapeut, Philosoph. Ihm dürfte aber auch Freuds schon 1900 erschienenes und in Künstlerkreisen breit rezipiertes Opus «Die Traumdeutung» nicht entgangen sein. Im Sommer 1913 begleitete Rilke seine glamouröse Ex-Geliebte Lou nach München zum IV. Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung und lernte dort am 8. September Freud persönlich kennen. Eine sympathische und inspirierende Begegnung – man sass bis spät in die Nacht zusammen. Unter anderem muss Freud von seinem Sohn Ernst, dem Rilke-Aficionado, erzählt haben, sodass der Dichter auf einer Karte, die Freud an den Filius schrieb, einen Gruss anfügte. Zum Abschied versprach man sich, in Kontakt zu bleiben. Am 19. Dezember 1915 traf Rilke, einberufen zum Militärdienst, in Wien ein. Er genoss in Wien zunächst die grosszügige Gastfreundschaft des Fürsten Thurn und Taxis, bevor er im Hotel Hopfner’s Park bei Schönbrunn Quartier nahm. Kurz nach seiner Ankunft kam es zum verabredeten Wiedersehen. Am 20. Dezember war Rilke bei Familie Freud in der Berggasse auf «einen Bissen» zu Gast. Wie ihr Bruder Ernst schwärmte auch die 19-jährige Tochter des Hauses für Rilkes Verse. Ihr, dem «Fräulein Anna Freud» widmete der Besucher ein Exemplar seiner Gedichtsammlung. Rilke blieb Freud nach dieser Stippvisite als «ein reizender Gesellschafter» in Erinnerung.
Anfang Januar 1916 trat Rilke seinen Dienst an. Der überforderte ihn bald physisch und psychisch derart, dass er ins Wiener Kriegsarchiv versetzt wurde, wo er auf Literaten-Kollegen wie Stefan Zweig traf. Am 11. Februar bat Freud den «Hochgeehrten lieben Herrn Doktor» erneut zu sich. Doch Rilke warb in seinen Antwortzeilen an den Professor um Verständnis: Er fühle sich «zu müde, zu verstimmt, zu verwirrt», um die Einladung anzunehmen. Wohl auf den Kriegsdienst anspielend, schrieb er, «dieses Fremde und seine Ansprüche» seien «so unfasslich», dass er «starr werde, weit hinein (…). Aber das Ärgste ist der Schutt über dem Gemüth, mit jedem Tag mehr und mehr, öfters war ich daran, mir durch eine Aussprache mit Ihnen aus der Verschüttung zu helfen», so Rilke am 17. Februar 1916 an Freud. Seine Einberufung war für ihn so beängstigend, dass ein Gespräch mit Freud ihm als ein Ausweg erschien. Einerseits. Andererseits aber wolle er die Dinge doch besser «allein durchmachen». Freud liess ihn wissen, dass auch er mit dem «Ungeheuer» des Krieges kämpfe. «Wenn Sie das Bedürfnis haben, sich einmal durch eine Plauderei zu erleichtern, so verbergen Sie sich nicht vor uns», antwortete Freud am 18. Februar und fügte hinzu, selbst wenn Rilke «nicht so plastisch, so gesammelt und druckreif reden sollte» wie bei seinem ersten Besuch, «werden wir genug daraus machen». Zudem wagte Freud, dem verschlossenen und zurückgezogenen Poeten einen Ansatz von Deutung zu geben. «Vielleicht halten Sie Ihr Binnenleben zu strenge von der Aussenwelt abgesperrt», meinte er.
Tatsächlich suchte und brauchte Rilke, der Introvertierte, das Alleinsein. In der Stille hoffte er, seine Gefasstheit, die ihm in der Münchner Zeit abhandenkam, wiederzufinden. Überhaupt stilisierte Rilke seine absolute Künstlerschaft und sich zum Solitär, sah auch in anderen Künstlern grosse Einsame. Rilkes Besuch bei Freud im Dezember 1915 blieb letztlich sein einziger. Mit diesem Menschen sei «kein ewiger Bund» zu flechten, schrieb der Analytiker lakonisch und etwas verstimmt an Lou. Rilke immerhin hatte die Idee, sich bei ihm einer Redekur zu unterziehen, erwogen, trotz seiner höchst ambivalenten Einstellung dazu. Obwohl er Freuds Schriften, soweit er sie kannte, als teils «unsympathisch und stellenweise haarsträubend» empfand. Sein Leidensdruck als ein körperlich wie seelisch bedrohter Mann war gross. Der hochsensible Poet litt unter nervösen Krisen, ihn quälten depressive Phasen, unerklärliche Schmerzen und andere Symptome, und Angst als ein Grundmotiv ist in sein Schaffen tief eingeschrieben. «Dinge machen aus Angst», das sei seine Kunst, verriet er 1903 Lou Andreas-Salomé. Rilke glaubte selbst an einen psychosomatischen beziehungsweise neurotischen Hintergrund seiner Beschwerden. Später zeigte sich, dass manche seiner «Übelstände» auch der erst kurz vor seinem Tod erkannten Leukämie zuzuschreiben waren. So lässt sich die Freud-Episode in Rilkes Leben auch als eine Art Krankengeschichte beziehungsweise Symptomatik lesen, deren mögliche Therapie durch Freud, noch eh sie überhaupt begonnen worden wäre, an Rilkes Indifferenz und Abwehr gescheitert war.
Rilke und das Judentum
Jahrzehntelang schlummerte die Freud-Korrespondenz in Rilkes Nachlass-Archiv. Erst nach dem aufsehenerregenden Ankauf des zuletzt von Rilkes Urenkeln gehüteten Schatzes durch das Deutsche Literaturarchiv in Marbach Ende 2022 wurde sie erschlossen und 2025 in der Literaturzeitschrift Sinn und Form erstmals veröffentlicht. Im Umfang ist sie so kurz wie im Inhalt relevant, der «Klangzauberer» bewegt bis heute. Ein Jahrhundert nach seinem Tod ist Rilke nicht nur Liebling vieler Philologen, sondern auch Idol vieler Stars und prägt die Popkultur. Seine Verse werden auf TikTok rezitiert, Lady Gagas Arm ziert ein Tattoo mit Worten aus Rilkes «Briefe an einen jungen Dichter». Rilke schrieb Essays, Lyrik und Prosa, die sich an Suchende richten. Dafür wird er von jüngeren Generationen und Künstlern weltweit gefeiert. Als Person und literarische Stimme inspiriert er mehr denn je. Gerade sein Nimbus als «Frauenflüsterer», das bestätigen neueste Rilke-Biografien, ist unausrottbar. Exquisite Manierismen kultivierend, zog der Wortmächtige erstaunlich viele Gönnerinnen in seinen Bann und pflegte etliche Damenbekanntschaften. Er liess sich aber meist nur kurzzeitig auf Freundschaften ein und genoss Amouren eher als kreativen Impuls – das Kapitel Musen in Rilkes Lebensgeschichte scheint noch lange nicht auserzählt. Valerie von David-Rhonfeld, die der damals 18-Jährige in Prag kennengelernt und eine Zeitlang als seine Braut betrachtet hatte, war die erste Frau, der Rilke täglich Gedichte schrieb. Insbesondere auch jüdische Gesprächspartner Rilkes finden in Forschung und Feuilletons zunehmend Beachtung. Eine kurze Bekanntschaft verband ihn mit der Schriftstellerin Elisabeth Salomon. Diese veröffentlichte später, als sie bereits mit Friedrich Gundolf aus dem George-Kreis verheiratet war, Erinnerungen an «Begegnungen mit Rainer Maria Rilke». Des Dichters Interesse am Judentum belegen auch seine 1921/22 an die Lyrikerin Ilse Blumenthal-Weiss (1899–1987) gerichteten Briefe, die 2024 in Form eines dialogischen Briefwechsels herausgegeben wurden. Diese Korrespondenz-Publikation wird ergänzt um Rilkes Beitrag zu der 1906 veranstalteten Enquete «Zur Lösung der Judenfrage» und um Texte aus der Feder von Blumenthal-Weiss. Die Berlinerin veröffentlichte 1929 ihren ersten Gedichtband, floh 1937 mit ihrer Familie nach Amsterdam und ging als Holocaust-Überlebende 1947 in die USA. Dort befasste sie sich als eine der Ersten überhaupt in Vorträgen und Artikeln mit Rilkes Verhältnis zum Judentum.
Künder, Seher, Mittler
«Der Panther»-Dichter Rainer Maria Rilke galt schon zu Lebzeiten vielen als Inbegriff des genialen Wortkünstlers, als Künder, Seher und mythischer Mittler, der beängstigend nah in Berührung kam mit den Abgründen seiner Zeit und in ihm selbst. Tatsächlich waren für ihn Gespenster liebe Gesprächspartner, an die Existenz solcher Geistwesen glaubte er. Auf Duino hoch über der Adria versuchte er sogar, sie bei einer Séance zu beschwören, was nur bedingt glückte. Manchmal meinte er gar, echte Gespenster zu treffen. Zuletzt in Muzot, wo eine junge Dame von Adel einst aus Verzweiflung früh den Tod gefunden haben soll und dann, erzählte man sich, in just jenem Schloss in Muzot spukte, wo Rilke zuletzt seinen Wohnsitz hatte. Aus Rücksicht auf die Unglückliche, heisst es, liess Rilke sich nach seinem Tod nicht beim Château de Muzot, sondern im benachbarten Raron beisetzen: Die Verblichene solle nicht durch seinen Geist gestört werden. In einer Sitzung mit Freud hätte all das für reichlich Stoff gesorgt. Gerade bei Rilke griffen Autor und Werk, Wirklichkeit und Fiktion zutiefst ineinander. Schon 1904 hatte er geschrieben: «Wir müssen unser Dasein so weit, als es irgend geht, annehmen; alles, auch das Unerhörte, muss darin möglich sein. Das ist im Grunde der einzige Mut, den man von uns verlangt: mutig zu sein zu dem Seltsamsten, Wunderlichsten und Unaufklärbarsten, das uns begegnen kann.» Sollten doch seine Werke für ihn sprechen.