zürich 07. Nov 2025

Psychologie, Kunst und allerlei Verdrängtes

Die Schweizer Künstlerin Heidi Bucher (1926-1993) löst in Kreuzlingen die Wände des Konsultationszimmers von Ludwig Binswanger mit Gaze und Latex ab. «Das Audienzzimmer des Doktor Binswanger»,…

Die Ausstellung «Seelenlandschaften» im Landesmuseum zeichnet die Entwicklung der Psychologie in der Schweiz nach, beweist jedoch wenig Mut und lässt manch unbequeme Frage aus.

Die Ausstellung «Seelenlandschaften» im Landesmuseum anlässlich des 150. Geburtstags des Zürcher Psychiaters Carl Gustav Jung zeichnet die frühe Entwicklung der Tiefenpsychologie nach und bebildert mit einer Fülle von Exponaten, die in der Auseinandersetzung mit der Psychiatrie entstanden sind, das weit gesteckte Feld der menschlichen Fantasie und Forschung.

Die aktuelle Ausstellung des Kurators Stefan Zweifel ist in drei Teile gegliedert und folgt nur punktuell einem historischen Konzept, was leicht übersehen wird. Nebst Rousseau und Lavater scheinen vor allem die ungestümen Landschaften die Schweiz zu einer bevorzugten Destination für «Seelensucher» zu prädestinieren. Der erste Teil der Ausstellung, welcher seltsamerweise über die Hintertreppe erreicht wird, ist historisch und reicht bis zum Bruch von Freud und Jung. Darauf folgt eine Darstellung von Jungs Kosmos, in dessen Zentrum «Das Rote Buch: Liber Novus» steht, mit Erläuterungen zur Archetypenlehre, zur aktiven Imagination und zu spiritistischen Ausläufern. Der dritte Teil zeigt eine «Psycho-Geografie der Schweiz», enthält faszinierende Schlaglichter und wirkt zugleich ziemlich willkürlich.

Der Vorteil dieses unscharfen Konzepts ist, dass man die Schwerpunkte so setzen kann, dass bildmächtige und originelle Objekte zur Geltung kommen. «Das Rote Buch» in einen Saal, die roten Pillen in einem anderen, hier ein Elektrogalvanometer, dort Mariella Mehrs Lederjacke, eine Karte von Nordafrika und Thomas Hirschhorns «Nietzsche-Map». Die Symbolsprache vor und nach Jung wartet teilweise mit sexuellen Inhalten auf. Ganz im Sinne Jungs entsteht der Eindruck, dass die Kunst der einzig wahre Weg zur Befreiung von seelischer Not ist.

Ungenaue Analysen und Einordnungen
Der Nachteil dieser teilweise unsystematischen Herangehensweise ist, dass vieles in der Schwebe bleibt, weil Hintergründe und Zusammenhänge fehlen. Am auffälligsten ist der Mangel an historischer Einordnung bei Jungs Antisemitismus. Eine Tafel bei der Vitrine am Rand nennt Jungs Zitat, wonach das «arische Unbewusste (…) ein höheres Potential als das jüdische» habe. Bereits im nächsten Satz heisst es, Jung habe ab 1934 «vielen jüdischen Psychologen» zur Flucht verholfen und sich 1939 als Präsident der deutschen «Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie» zurückgezogen. Der Schönheitsfehler an dieser Aussage ist nicht nur die fehlende Präzisierung, was «viele jüdische Psychologen» genau meint. Vor allem wird hier Jungs Selbstdarstellung unkritisch übernommen. Jung distanzierte sich nicht nur von der «jüdischen Psychoanalyse», sondern er verwendete Nazibegriffe, indem er vom «zersetzenden Charakter» bei Freud oder Adler sprach. Er mystifizierte Hitler, dessen «Unbewusstes einen ausserordentlich guten Zugang zum Bewussten» habe, weshalb er «bis heute unfehlbar gewesen» sei, so Jung noch 1939. Auch rügte er die Vertreter der Bekennenden Kirche, sie seien nicht so tolerant wie die Sturmabteilung der Deutschen Christen (Arnold Künzli in der Zeitschrift «Neue Wege» 5/1995). All dies erfährt man nur in groben Umrissen auf einem Tablet. Eine genauere Analyse hätte wohl ergeben, dass sich hinter der Rede von der «Zersetzung» eine Angst vor der Moderne und dem Gefühl der Entfremdung verbirgt. Immerhin räumt die Stimme auf der Guide-App ein, dass Jung die Werke von Joyce oder Picasso ablehnte. Doch diese Skepsis gegenüber der Moderne, die Jung von Freud und Adler unterscheidet, wäre ein historisch sehr wertvoller Gegenstand gewesen. Die Tiefenpsychologie hat sonst für Religion, Esoterik oder Vergangenheitsverklärung wenig übrig. Es wäre aber auch davon zu berichten, dass es die Schulpsychologie der Verhaltensforschung gibt, die von der Tiefenpsychologie abweicht. Besonders hätte eine geschichtliche Einordnung auch die Unterschiede zwischen Tiefenpsychologie und Psychiatrie herausarbeiten müssen.

Über antisemitische Tendenzen in der Zürcher Psychiatrie hatte Mario Gmür in tachles berichtet (vgl. tachles 38/2024). Letztlich handelt es sich auch um ein systemisches Problem, denn die Tiefenpsychologie entwickelte sich ausserhalb der Kliniken und Universitäten. Jungs Beispiel ist insofern untypisch, als er den Institutionen näherstand als andere. Schon früh sahen sich Vertreter von Staat und Kirche herausgefordert von einer Denkweise, die das Wohl des Einzelnen ins Zentrum stellte (vgl. Sigmund Freud, «Gutachten über die Elektrische Behandlung der Kriegsneurotiker» 1920). Nicht zuletzt hat die Schweizer Psychologieszene von den jüdischen Emigranten profitiert. Diese Zusammenhänge sucht man im Landesmuseum ebenso vergeblich wie Hanna Arendts Worte: «Die von einem Land ins andere vertriebenen Flüchtlinge repräsentieren die Avantgarde ihrer Völker» (Hannah Arendt, «Wir Flüchtlinge» 1943).

Mangel an Mut und Diversität
Etliche Kunstwerke stammen von Frauen (Heidi Bucher, Annemarie von Matt, Louise Bourgeois u. a.). Ein Protest gegen die «männlich dominierte Psychoanalyse», wie die WOZ schreibt, klingt an. Im Katalog findet sich das von Ita Gross-Ganzoni zusammengestellte «kleine Lexikon der Psychoanalytikerinnen» mit 14 kurzen Portraits. Doch wie kam die Auswahl zustande? Tatsächlich liesse sich ein Bogen von Karen Horneys «Der neurotische Mensch in unserer Zeit» (1937) bis zu Cynthia Fleurys «Hier liegt Bitterkeit begraben» (2019) spannen. Nur scheinen die Ausstellungsmacher keinem zu trauen, der von Freud abgewichen ist, ausser Jung, einer kleinen Schar um Parin und einigen französischen Philosophen. So muss auch Adlers frühe Kritik am Patriachat unterbleiben. Bereits 1910 nannte er die Ungleichbehandlung von Mädchen und Jungen in der Erziehung einen «Krebsschaden der Kultur». Alfred Adler und Wilhelm Stekel hätten sich bereits 1911 «von der Sache Freuds losgesagt», schreibt Thomas Fischer im Katalog. Gleiches liesse sich über Jung zwei Jahre später sagen. Doch aus unerfindlichen Gründen verneigt man sich vor diesem und ächtet den Rest. Nebst Freud und Jung mit ihrem konservativen Frauenbild bestanden sehr wohl modernere Positionen innerhalb der Tiefenpsychologie. Freuds Kränkung durch Adler wird nicht durchschaut, sondern übernommen. Zeitgenossen sprachen in diesem Zusammenhang von «Zensur» und «Exkommunikation», die von Freud ausging. Und anders als in Freuds Selbstdarstellung stammt die Trieblehre (und ihre Korrektur) von Adler, den Alexander Kluy als «Avantgardisten des postmodernen Bewusstseins» bezeichnet. Unter diesen Umständen Adlers Beitrag auszublenden, heisst, an einem einseitigen Schweigegebot festzuhalten. Wie beschreibt Ita Gross-Ganzoni im Ausstellungskatalog den Umgang damit, als der Widerspruch von Alice Millers Werk und ihrer gelebten Mutterrolle bekannt wurde? «Es folgten erstaunlich wenig Diskussionen und viel Schweigen.»

Neoliberalismus und Pharmaindustrie lassen grüssen
Hinter der zur Schau gestellten Toleranz und Offenheit verbirgt sich also viel Wertung und Schweigen. Neben den kaum beleuchteten Schattenseiten Jungs und der bloss angetippten Geschlechterfrage tritt das höchstens rudimentäre Verständnis für seelische Nöte zutage. Drogenkonsum erscheint dann nicht als Krankheit, sondern als Akt der Selbstbestimmung und Befreiung. Das ist wohl Freuds eigenem Kokainkonsum und dem von Otto Gross geschuldet. Eine gewisse Kritik an der Pharmaindustrie wird geäussert, im Fall von LSD ist man aber wieder sehr unkritisch. Auch die Aussage, wonach die psychiatrische Behandlung heute nicht auf Medikamente verzichten könne, stimmt so absolut nicht und unterschlägt, dass genau dies der Unterschied zu den verschiedenen Formen der Psychotherapie ist. Das mag an der Auswahl liegen, denn auch die nicht ärztliche Psychotherapie wird übergangen. Die Vertreibung der Tiefenpsychologie aus Deutschland hat Folgen bis heute. Doch auch in der Schweiz waren tiefenpsychologische Ansätze in Kliniken die Ausnahme. Erst recht kurios wird es, wenn unter den «wilden Analysen» von «Therapeuten ohne Ausbildung» die Rede ist und Otto Gross auftaucht, der ja selbst Psychiater war. Hier hätte man die teilweise sehr prekäre Ausbildungssituation erläutern können, wozu es in der «Schweizerische Ärztezeitung» seit den 1950er Jahren intensive Debatten gab. Bei der Fülle an eindrücklichen Exponaten bleibt unklar, was nun die Rolle des Unbewussten ist und wie es sich auswirkt. Ist also doch alles nur eine chemisch-körperliche Reaktion? Das fügt sich in den Zeitgeist der Selbstoptimierung. Biografische und gesellschaftliche Anteile bei psychischen Leiden werden abgespalten. Neoliberalismus und Pharmaindustrie lassen grüssen.

Unerwähnt bleiben die vielen jüdischen Vertreter der Tiefenpsychologie in Zürich, besonders auch die von Friedrich Liebling und Josef Rattner gegründete progressive «Zürcher Schule» wie eine geradezu verräterische Stelle im Katalog zeigt, die bekanntlich nach Lieblings Tod 1982 ins Gegenteil umgewandelt wurde. Diese war immerhin bis 1982 die grösste psychologische Bewegung im deutschen Sprachraum. Remo Largo und die Entwicklungspsychologie werden erwähnt, doch weshalb nicht Marie Meierhofer, die mit ihren von René Spitz inspirierten Konzepten in der Politik auf Widerstand stiess? Möchte man das Publikum nicht überfordern? Unerwähnt bleibt die erstaunlich aktuell wirkende Gesellschaftskritik von Otto Gross (1909): «Die Psychopathie mit verflachtem Bewusstsein in ihren leichten und leichtesten Formen wird vom Volk regelmässig als ganz besonders gute Gesundheit aufgefasst und (…) als ‹unverwüstliches Temperament› bezeichnet.» Unerwähnt bleibt auch Ruth Cohns Einschätzung des Nationalismus in der Schweiz, wonach «(…) viele Menschen eine relativ kleine Perspektive von der Weltgeschichte und von Psychologie haben. Und die Nationalisten haben hier in der Schweiz ja eine gute Zeit erlebt. Eine langanhaltende gute Zeit: Neutralität und keine Stellung beziehen müssen; gute Arbeit und Sparsamkeit; Gefälle ausnützen.» Man sei ahnungslos und halte den eigenen Reichtum für eine Folge der guten Arbeitsmoral, etwa im Hinblick auf die Menschen in Afrika. «Viel Unwissen also», bilanziert Ruth Cohn 1999. Zu guter Letzt fehlt auch der Hinweis darauf, dass das Psychoanalytische Seminar 2024 die Anerkennung des Bundes als Ausbildungsstätte verloren hat. Was bedeutet das für den Stand der Tiefenpsychologie hier und heute?

Unwissen über die Psychologie und die Welt: Gilt das noch immer? Die Scham, über psychische Probleme zu sprechen, mag aktuell etwas kleiner sein als noch vor ein, zwei Generationen. Doch das weltweite Erstarken religiöser und nationalistischer Strömungen entspricht einem Rückzug der aufgeklärten Sicht, die das Schweigen durchbricht und Verdrängtes ins Bewusstsein holt, selbst wenn das eine «narzisstische Kränkung der Menschheit» mit sich bringt (Freud 1917). Die ästhetisch aufbereitete Ausstellung ist streckenweise sehr sorgfältig recherchiert, beweist aber wenig Mut zu unbequemen Fragen und lässt zu vieles aus. So entsteht der Eindruck einer verpassten Chance. Schade, bei diesem interessanten und aktuellen Thema. 

Die Ausstellung «Seelenlandschaften: C. G. Jung und die Entdeckung der Psyche in der Schweiz» ist noch bis zum 15.2.2026 zu sehen. www.landesmuseum.ch

Peter Boller ist Historiker und Architekt. Seine Ausstellung im Museum Strauhof 2022 zur Geschichte der Tiefenpsychologie in Zürich trug den Titel «Zürich entschweigen». Zuletzt erschien von ihm zur gleichen Thematik ein Beitrag im Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 2025.

Katalog: Schweizerisches Nationalmuseum (Hg.): Seelenlandschaften – C. G. Jung und die Entdeckung der Psyche in der Schweiz. Zürich 2025.

Peter Boller