SCHWEIZ 24. Okt 2025

Prototyp eines Pioniers auf vielen Gebieten

1925 erschien das legendäre Buch «Die Kunstism» von El Lissitzky und Hans Arp, welches die Strömungen der Avantgarde in der bildenden Kunst von 1914 bis 1924 illustriert.El Lissitzky setzte sich auch…

Den Beziehungen des russischen jüdischen Avantgardisten El Lissitzky zur Schweiz widmet in Bellinzona das Museo Villa die Cedri eine reich bestückte Ausstellung

Einflussreicher als Architekt, Maler, Buchkünstler, Typograf, Fotograf und Kunsttheoretiker El Lissitzky (1890–1941) hätte in der Zeit der Weimarer Republik kaum ein anderer jüdischer Avantgardist sein können. Dass er sowohl Russisch und Deutsch als auch Jiddisch und Italienisch sprach, kam ihm in seiner internationalen Vernetzung immer wieder zugute. Obschon er aus der Geschichte des Konstruktivismus nicht wegzudenken ist, erinnern in den schweizerischen Kunstmuseen repräsentative Einzelausstellungen und vereinzelte Werke eher selten an sein ebenso vielseitiges wie umfangreiches Schaffen.

Da vor einem Jahrhundert der etwas mehr als einjährige, ausserordentlich arbeitsreiche Aufenthalt von Eliezer Morduchowitsch Lissitzky, bekannt als El Lissitzky, im Tessin zu Ende gegangen war, widmen gleich zwei Museen in der Südschweiz jener fruchtbaren Zeit entsprechende Ausstellungen. Ausserdem gilt es, ein Buchjubiläum zu feiern, erschien doch 1925 erstmals die legendäre Übersicht «Die Kunstismen», herausgegeben von El Lissitzky und Hans Arp, im Verlag Eugen Rentsch (Erlenbach-Zürich, München und Leipzig). Zu Werken von 60 Künstlerinnen und Künstlern aus 13 Ländern, die rückläufig von 1924 bis 1914 Beispiele für insgesamt 16 «Ismen» liefern, steuerte Arp kurze und mitunter recht saloppe Kommentare bei. So charakterisierte er den Expressionismus respektlos: «Aus Kubismus und Futurismus wurde der falsche Hase, das metaphysische deutsche Beefsteak, der Expressionismus gehackt.»

Uneinigkeiten in der Auswahl sowohl der Künstler als auch einzelner Abbildungen der Werke führten zum Bruch in der Zusammenarbeit. Im Hintergrund der Entstehung des Buches wirkte organisatorisch massgeblich El Lissitzkys Lebensgefährtin und spätere Frau Sophie Küppers mit, eine deutsche Kunsthistorikerin und Sammlerin, die 1967 im VEB Verlag der Kunst in Dresden mit der Monografie «El Lissitzky – Maler, Architekt, Typograf, Fotograf» das in mehrere Sprachen übersetzte Standardwerk über den in Moskau gestorbenen Künstler vorlegen sollte.

Als eines der gefragtesten Bücher der europäischen Avantgarde erschien «Die Kunstismen» als Reprint zuerst 1968 bei der Arno Press in New York, dann 1990 im Verlag Lars Müller in Baden. Bis zum 2. November steht es dieses Jahr im Zentrum der in Buchform von Mario Lüscher und Simona Martinoli dokumentierten Ausstellung «Lissitzky, Arp und die Kunstismen» in der Fondazione Marguerite Arp in Locarno-Solduno. In einen grösseren Zusammenhang integriert, wird es auch in der Ausstellung «Looking for Lissitzky. El Lissitzky e la Svizzera (1919–1929)» mit einem Insert der Graphischen Sammlung ETH Zürich im Museo Villa dei Cedri in Bellinzona bis zum 25. Januar 2026 gezeigt. Dieser Ausstellung gilt die folgende Rezension.


Kuraufenthalt im Tessin
In die Schweiz kam El Lissitzky seiner Lungentuberkulose wegen, die er im Tessin auszukurieren hoffte. Wie Mario Lüscher und Simona Martinoli in ihrem Buch zur dortigen Ausstellung schreiben, gelangte der Künstler auf Empfehlung von deutschen Ärzten in die Hände von Alfonso Franzoni, der als Spezialist für Tuberkulose am Bezirksspital La Carità in Locarno wirkte und ihn während des Tessiner Aufenthalts behandelte. Finanziell unterstützt wurde El Lissitzky in der Südschweiz unter anderem durch die Ärzte Leo Catzenstein und Ernst Steinitz, den Bankier Richard Oppenheimer, Kurt Schwitters und die in Hannover ansässige Firma Günter Wagner. Sie sicherte ihm für die grafische Gestaltung der Werbung für ihre Pelikan-Schreibwaren eine monatliche Honorierung zu. Vom Kurhaus in Orselina wechselte der Patient nach Ambri-Sotto hinüber, wo er in einem einfachen Häuschen mit Hans Arp an den «Kunstismen» arbeitete.

Bevor er im Mai 1925 die Schweiz verliess, um nach Moskau zurückzukehren, wandte er sich in Brione oberhalb von Minusio weiteren Projekten zu. Während des Tessiner Aufenthalts übersetzte El Lissitzky theoretische Schriften des russischen Suprematisten Kasimir Malewitsch. Er lieferte nicht nur Entwürfe für das mit Kurt Schwitters zusammen editierte Merz-Heft «Nasci» sowie für die Pelikan-Werbung, sondern beteiligte sich auch an der in Thalwil, später in Basel publizierten Zeitschrift «ABC – Beiträge zum Bauen» (1924–1928). Darüber hinaus konzipierte er einen «Wolkenbügel» genannten, 50 Meter hohen horizontalen Wolkenkratzer, wobei er für technische Details den Schweizer Architekten Emil Roth zuzog. Mit der diagonal aufstrebenden «Lenintribüne», die auf architektonischen Studien in den «Prounen» basiert und als Rednertribüne mit ihrer Dreidimensionalität den Raum durchmisst, galt ihr visionärer Entwerfer im Westen als Aushängeschild der noch jungen sowjetischen Avantgarde.

1924 entstand auch die schnell berühmt gewordene Fotomontage «Der Konstrukteur». Sie ziert den Umschlag des wegweisenden Buches «foto-auge. 76 fotos der zeit» von Franz Roh (Stuttgart 1929) in der typografischen Gestaltung von Jan Tschichold und wurde auf dem Plakat zur aktuellen Ausstellung in Bellinzona wiederverwendet. Mit einem Zirkel in der über seinem Kopf montierten Hand präsentiert sich der Künstler als Visionär und Baumeister neuer Welten.


Freundschaft mit Marc Chagall
Eliezer Morduchowitsch Lissitzky kam am 23. November 1890 in Potschinok, Oblast Smolensk, zur Welt. Er wuchs in Witebsk im heutigen Belarus auf, wo er bei Juri Pen, einem Lehrer von Marc Chagall und Ossip Zadkine, ab 1903 den ersten Malunterricht erhielt, bevor er in Smolensk das Gymnasium besuchte. Als er sich 1910 um Aufnahme in die Kaiserliche Kunstakademie in St. Petersburg bewarb, wurde er als Jude abgewiesen. Er begann daher ein Architekturstudium an der Grossherzoglichen Technischen Hochschule in Darmstadt.

In jener Zeit pflegte er, die Synagoge in Worms häufig aufzusuchen und sich vermehrt mit jüdischen Themen zu beschäftigen. Nach Kontakten zur Jüdischen Historisch-Ethnografischen Gesellschaft trat er 1917 in Moskau dem vom Dichter Moische Broderson geleiteten jüdischen Kulturbund Schomir und in Kiew dem Verein Jüdische Kultur-Liga bei. In deren Verlag gab er 1919 einen Zyklus von Farblithografien zum Pessach-Lied «Chad gadja» («Ein Zicklein») mit hebräischen Texten heraus. Alle diese volkstümlich gefärbten, in nur wenigen Exemplaren überlieferten Illustrationen werden in der Ausstellung gezeigt. Mit der Gestaltung jüdischer Kinder- und Märchenbücher profilierte er sich binnen weniger Jahre als eigenständiger Protagonist der anfänglich noch stark von der russischen Volkskunst beeinflussten jüdischen Kultur. Vermutlich auf Initiative seines Freundes Marc Chagall wurde El Lissitzky 1919 nach Witebsk berufen, um an den neuen Volkswerkstätten als frisch diplomierter Architekt bis 1921 mehrere Abteilungen und die Druckerei zu leiten.

Novum «Proun»
Um Zeichen einer neuen Welt zu setzen, entwickelte El Lissitzky damals stark räumlich geprägte Bilder und eine neuartige Architektur. Er gab ihr den Namen «Proun», eine Ableitung von «Pro» und «Unowis» was für «Projekt zur Bestätigung des Neuen» oder «Für die Bejahung neuer Formen in der Kunst» stand. Im oben erwähnten Künstlerbuch «Die Kunstismen» beschränkte sich El Lissitzky auf einen einzigen Satz: «Proun ist die Umsteigestation von Malerei nach Architektur.» Ob es sich um einen Raum mit einzelnen Objekten oder ein druckgrafisches Produkt handelt, allen «Prounen» eignet eine befreiende Schwerelosigkeit, wie sie schon die Lithografie «Proun 1. Im Raum schwebende Konstruktion» im Titel zum Ausdruck bringt.

Die von Carola Haensler, Direktorin des Museo Villa die Cedri, thematisch in zwölf Sektionen eingeteilte Ausstellung trägt der Bedeutung der «Prounen» mit mehreren Mappen ebenso wirkungsvoll Rechnung wie den revolutionären typografischen Gestaltungen von Büchern, Katalogen und Zeitschriften. So wird auch der bahnbrechende Typograf Jan Tschichold in die mit den avantgardistischen Filmen «Sinfonie diagonale» (1924) von Viking Eggeling und «Rhythmus 23» (1923) von Hans Richter angereicherte Ausstellung einbezogen.

Unter den in Russland, Deutschland und in der Schweiz entstandenen Exponaten ragt mit dem Ölbild «Hafen» (1919) des rumänisch-jüdischen Malers Arthur Segal, der den Ersten Weltkrieg in Ascona überlebte, ein Gemälde hervor, das sowohl an die Freundschaft mit El Lissitzky als auch an die künstlerische Progressivität der pazifistischen Emigranten im Tessin erinnert.

In Zusammenarbeit mit der Graphischen Sammlung der ETH Zürich entstand eine faszinierende Übersicht, die El Lissitzkys Einfluss auf die Druckgrafik sowohl der konkreten Zürcher Künstler Max Bill, Verena Loewensberg und Richard Paul Lohse als auch von Nelly Rudin und Shizuko Yoshikawa zeigt und mit Collagen von Leo Leuppi, darunter ein seltenes Schnurbild, eine verdienstvolle Wiederentdeckung enthält.

Ein Ausstellungskatalog in deutscher, englischer und italienischer Ausgabe ist beim Verlag Scheidegger & Spiess in Vorbereitung. l Bis 25. Januar 2026. «Looking for Lissitzky», Museo Villa dei Cedri, Bellinzona.
 

Walter Labhart