sidra 12. Jun 2025

Die zweite Chance

Eine klug gewählte Überschrift verweist auf die Essenz des Folgenden, lässt erahnen, worum es geht. Insofern ist der Titel unseres Wochenabschnittes etwas irritierend. «Behaalotcha» heisst «Wenn du anzündest», wortwörtlich eigentlich «Wenn du (die Flammen) erhöhst». Gemeint ist die Menora, der siebenarmige Leuchter, den Aaron als ewiges Licht entzünden soll (vgl. Num 8,1–4). Dieses Motiv umfasst allerdings lediglich vier Verse unseres Wochenabschnittes. Darauf folgen ganz andere Themen, wie etwa die Einführung von Pessach Scheni, dem «zweiten Passa». Für diejenigen Personen nämlich, die durch rituelle Unreinheit oder Abwesenheit an der Teilnahme am Pessachopfer im Monat Nissan verhindert waren, wird jeweils 30 Tage später, am 14. Ijar, ein Ausweichdatum festgesetzt, an welchem diejenigen, die zum richtigen Passa verhindert waren, das Fest nachholen können (vgl. Num 9,1–14). Bleiben wir aber vorerst bei der Menora. Die Thora verlangt: «Wenn du die Lampen anzündest, so lasse dem Leuchter gegenüber ihr Licht werfen, alle sieben Lampen» (Num 8,2). Was sich ein wenig kompliziert anhört, meint etwas Einfaches. Die Menora besteht aus einem Sockel mit einem Mittelschaft, an dessen oberem Ende ein Kelch angebracht ist. Von beiden Seiten zweigen je drei Arme ab, die ebenfalls in Kelche münden. Diese seitlichen Arme sollen jeweils leicht gegen die Mitte hin gebogen werden. Halten wir uns diese Beschreibung vor Augen, verunsichert die obige Formulierung allerdings noch mehr. Warum wird ausdrücklich erwähnt, dass «alle sieben Lampen» ausgerichtet werden sollen? Die nochmalige Erwähnung der Anzahl der Lampen scheint überflüssig, schliesslich weiss ich, dass von einem siebenarmigen Leuchter die Rede ist. Um die Verwirrung auf die Spitze zu treiben: Ich verstehe, dass jeweils drei seitliche Arme zur Mitte hin ausgerichtet werden. Das ergibt aber sechs Lampen und nicht sieben. Der mittlere Arm, der Mittelschaft, wird ja nirgendwo hingebogen.

Die Menora verbreitet Licht. Im besten Fall erleuchtet sie und verkörpert so Einsicht und die damit verbundene Lebensfreude. In diesem Zusammenhang hat die ausdrückliche Erwähnung der sieben ausgerichteten Lampen einen tieferen Sinn. Wir wissen, dass alles zwei Seiten hat. Wo Licht ist, fällt bekanntlich auch Schatten. Im Deutschen wird sprachlich die «rechte Seite» mit «richtig», «rechtens» und «rechtschaffen» verbunden, während die «linke Seite» etwas mit «linkisch» und «jemanden linken» zu tun hat. Wenn jemand zwei linke Hände hat, dann ist es besser, man lässt ihn links liegen. Hat jemand aber das Herz auf dem rechten Fleck, so verbünde ich mich gerne mit ihm. Diese Zusammenhänge haben durchaus auch ihre Assoziationen innerhalb der jüdischen Mystik. Die rechte Seite des Lebensbaumes symbolisiert Liebe und Überfluss, die linke Seite Strenge und Einschränkung. Mit «andere Seite» bezeichnet die Kabbala das Schlechte in dieser Welt. Auf diesem Hintergrund lässt sich die ausführliche Beschreibung des Anzündens der Menora besser verstehen. Wenn du sie anzündest und damit das Licht nach oben steigen lässt, müssen beide Seiten gegen das Zentrum hin ausgerichtet sein. Wenn es um geistige Erleuchtung geht, kann ich das scheinbar Schlechte nicht einfach ignorieren. Ich brauche es mindestens so sehr, wie das offensichtlich Gute. Wir dienen Gott bekanntlich mit beiden Trieben, dem Guten und dem Schlechten. Die Kunst besteht ja gerade darin, nichts zu verdrängen, vielmehr alles zu veredeln und in den Dienst des Guten zu stellen, selbst die Eigenschaften, die verpönt oder verschmäht sind. Plötzlich steht die Einrichtung von «Pessach Scheni», dem «zweiten Passa» in einem völlig neuen Licht da. Auf den ersten Blick nämlich erscheint die Forderung der Männer verwegen, die sich an Moses mit den Worten wenden: «Wir waren zur Zeit von Passa unrein. Warum sollen wir deswegen zu kurz kommen und das Passaopfer nicht gleich wie die anderen darbringen können?» (Num 9,6–7). Was für eine Chuzpe! Sie waren unrein und damit nicht geeignet, das Passaopfer zu geben. Auch wenn die Rabbinen sich beeilen festzustellen, dass die Männer unrein waren, weil sie sich mit anderen Geboten beschäftigten, nämlich mit der Beerdigung von Aarons verstorbenen Söhnen oder mit dem Transport der Gebeine von Joseph (vgl. Sukka 25a), so bleibt Unreinheit dennoch das, was sie ist: ein Zustand, der uns von einigen Geboten nicht nur entbindet, sondern ausschliesst. Schliesslich gibt es auch unedle Gründe, unrein zu werden. Was soll also die Forderung nach einem Ersatztermin, nach einer zweiten Chance?

Moses hat die Männer mit ihrem merkwürdigen Ansinnen nicht einfach zurückgewiesen. Er hielt vielmehr Rücksprache mit Gott und hörte, dass von nun an der zweite Passa zu einer festen Institution werden soll, von der fortan alle Menschen profitieren dürfen, die während dem ersten Passa durch Berührung einer Leiche unrein waren und somit das Fest nicht begehen konnten. Woher nur wusste Moses, dass jene Männer mit ihrem Begehr bei Gott eine Chance haben würden? Weil er kurz zuvor hörte: «Wenn du die Lampen anzündest, so lasse dem Leuchter gegenüber ihr Licht werfen, alle sieben Lampen.» Moses hörte, dass auch «die andere Seite» nach der Mitte ausgerichtet sein muss. Alle sieben Lampen scheinen somit aufwärts. Wenn jemand derart ausgerichtet ist, wenn sich jemand ehrlich darum bemüht, alles zu erhöhen, dann verdient er auch eine zweite Chance. Mehr noch: die «zweite Seite» selbst wird zur Chance.

Michael Goldberger schrieb von 2001 bis 2012 Sidrabetrachtungen für tachles. Erschienen sind diese im Buch «Schwarzes Feuer auf weissem Feuer: Ein Blick zwischen die Zeilen der biblischen Wochenabschnitte», woraus dieser Text stammt.
 

Rabbiner Michael Goldberger