Israel 12. Jun 2025

Ohne Ahnung und ohne Verantwortung

So sieht sich Israels Regierung selbst: Nach eigener Aussage. Weder Premier noch Minister ahnten etwas von den Warnsignalen, die sich vor dem Massaker am 7. Oktober 2023 häuften, weshalb sie auch keine Verantwortung für das Gemetzel an 1200 Menschen und die Entführung von 251 Menschen trägt. Daher ist es nur logisch, dass diese Koalition in der Nacht zum Donnerstag nicht gestürzt ist. Ging es doch nicht etwa um ihr unverzeihliches Sicherheitsversagen, sondern um ihre internen Querelen, weiter ungestört nicht etwa dem Staat, sondern allein der eigenen Klientel zu dienen.

Wobei Ahnungslosigkeit und Verantwortungslosigkeit bis heute andauern. Noch Ende Mai trat Netanjahu vor die Kameras und verharmloste die Massenmörder vom 7. Oktober 2023 als «Angreifer in Badelatschen mit Kalaschnikows». Dass sie auch von der See und aus der Luft angriffen, mit Panzerabwehrraketen und einsatzbereiten Sprengfallen wie auch bestens informiert waren über Routineabläufe auf der israelischen Seite? Keine Ahnung. Die Kette des Scheiterns war demnach auch nicht so schlimm, soweit sie den Premier betraf, den demnach keine Verantwortung treffen kann.

Immer noch sitzen israelische Geiseln hungernd und frierend in den Gaza-Tunneln, wenn sie nicht gestorben sind. Immer noch kämpft die Hamas gegen die israelische Armee. Oder ist es umgekehrt? Mit Ausweitung der Kämpfe im Mai wurde aus einer paramilitärischen Truppe, deren Strukturen fast vollständig zerschlagen sind, wieder ein Hamas-Klüngel aus Terror-Zellen. Terror, der militärisch noch nirgendwo auf der Welt vernichtet werden konnte. In Badelatschen unbesiegbar. Immer wieder verkündete Netanjahu den zum Greifen nahen Sieg über die Hamas. Im Dezember 2023, im Mai 2024, im Herbst 2024 wie auch im Mai 2025.

Ahnungslosigkeit auch beim Finanzminister Bezalel Smotrich. Er erklärte mehrmals mit naivem Augenaufschlag, von der Hamas-Elitetruppe Nukhba vor dem 7. Oktober nichts gewusst zu haben. An dem Tag griffen sie dann auf funkelnagelneuen Motorrädern und mit Gleitschirmen an. Was nur heissen kann: Als Mitglied des Sicherheitskabinetts liest Bezalel Smotrich keine Zeitungen und hört bei Geheimdienst-Briefings weg.

Israels Präsident des Rechnungshofes, Matanjahu Engelmann, sieht dies etwas anders: Er beschuldigte letzte Woche nicht die göttliche Vorsehung, die fehlgeschlagenen Versuche verantworten zu müssen, den Wiederaufbau im Norden und Süden Israels doch noch anzukurbeln. Wie auch die vielen Fehlschläge bei der Evakuierung im Krieg selbst. Auch Engelmann trägt eine Kippa, doch beschuldigt er die Regierung: «Sie hat die ihr aufgetragenen zentralen Aufgaben nicht durchgeführt.» Mit dem Ergebnis, dass bislang nur 24 Prozent der im Krieg evakuierten Bewohner im Norden bereit sind, «auf jeden Fall» an ihre alten Wohnorte zurückzukehren. Durch simple Streichung der Hilfsgelder waren im Vorjahr viele Familien gezwungen, in ihre alten Grenzorte zurückzukehren. In Sderot waren es fast 90 Prozent der Bewohner. Die vierstellige Starthilfe war schnell aufgebraucht. Nach Wiederaufnahme der Kämpfe im Gazastreifen und neuem Frontdonner auf Hör- und Sichtweite ziehen es gegenwärtig vor allem Familien mit Kindern vor, sich auf eigene Rechnung wieder selbst zu evakuieren.

In den Kibbuzim, wo viele Häuser bis heute unbewohnbar sind, warten die Rückkehrwilligen weiter auf staatliche Finanzierungshilfe. Einigen Dörfern gelang es, mit Eigenkapital den Wiederaufbau voranzutreiben. Nicht wenigen der Evakuierten ist es aber gelungen, andernorts Fuss zu fassen, neue Arbeitsplätze zu finden und neue Schulen für ihre Kinder. Da ist umfassende staatliche Hilfe gefragt, um diese Menschen zurückzuholen. Bezalel Smotrich träumt derweil laut und öffentlich von neuen Siedlungen im bald eroberten Gazastreifen.

«Wir werden im Stich gelassen, die Gnadenfrist dieser Regierung ist zu Ende», lautete letzte Woche das Fazit der Bürgermeister aus den Grenzregionen. Assaf Langleben, Landrat des Kreises Obergaliläa, reagierte auf den Bericht des staatlichen Rechnungshofes mit den Worten: «Diese Regierung hat Galiläa aufgegeben, ohne auch nur einen Schuss abzugeben.» Der Gemeinderatsvorsitzende von Margaliot, Eitan Davidi, wusste nicht, ob er über knapp eine halbe Million Franken Finanzhilfe lachen oder weinen soll: «Damit lässt sich nicht einmal der Wiederaufbau eines einzigen öffentlichen Gebäudes finanzieren (...). Wer es sich leisten kann, zieht aus dem Norden weg.»

Während selbst Bürgermeister der Netanjahu-Partei Likud nicht mehr mit ihrer Kritik an Premier und Ministern zurückhalten, sucht die Partei nach neuen Wegen zu ungehinderter staatlicher Handlungsfreiheit. Nach «meschilut». Soll heissen: Die Einschränkung aller heute geltenden gesetzlichen Kontrollhürden. Netanjahus Handlanger sprechen von «Justizreform». Am Ende soll das Oberste Gericht seine bisherige Aufsichtspflicht verlieren: Vom Parlament verabschiedete Gesetze, Verwaltungsentscheidungen der Ministerien, die Ernennungen hoher Beamter und neuer Richter – in allem sollen die Politiker entscheiden. Eine Regierung ohne Gewaltenteilung und über dem Gesetz. Und das in einem Staat, der keinen Ständerat kennt und über kein Grundgesetz oder eine Verfassung verfügt. «Meschilut». Mehrheitsdemokratie statt Rechtsstaat.

Dafür nahm die Regierung schon 2023 innere Spaltung und tagtägliche Strassenproteste in Kauf. Zustände, die letztlich auch die Hamas zu ihrem Massaker-Angriff im Oktober verleitete. Es waren vor allem die straff organisierten Verbände der Reservisten, die den Widerstand gegen die Justizreform anführten. Im Gegensatz zu den Ministern, die zu einem grossen Teil niemals den Soldateneid ablegen mussten, erinnern sich Soldaten besser an diesen Eid. Er verpflichtet nicht zum Schutz von Regierung oder Premier, sondern zum Schutz des «Staates Israel und seiner Gesetze». Es waren auch die Reservisten, die dann in den angegriffenen Grenzregionen der Bevölkerung erste Hilfe zukommen liessen. Von Nahrungsmitteln über Babykost bis hin zu warmen Decken. Jetzt ist es die Regierung, die den inneren Frieden erneut stören will, bis hin zur bereits öffentlich angekündigten Missachtung des Obersten Gerichts. Es droht eine Verfassungskrise. Mitten in einem Krieg ohne Ende, ohne klare militärische Ziele – oder mit sich sogar widersprechenden. Die vollkommene Vernichtung der Hamas (was immer das sein soll) und die Befreiung aller Geiseln? Ein Oxymoron.

Jetzt sind es wieder die Reservisten, die oft schon zum 4. Mal an die Front müssen. Während die Regierung sich in Bemühungen verzettelt, zigtausende junge Männer von der Wehrpflicht zu befreien, und dies in der Öffentlichkeit damit erklärt, dass es die jungen, streng frommen Schriftgelehrten sind, die durch ihr Studium und Gebet letztlich die Sicherheit Israels garantieren. Die säkularen Regierungssprecher versuchen gleichzeitig, die Befreiung von der Wehrpflicht – die sich nicht wie bisher auf alle orthodoxen Seminarstudenten im wehrpflichtigen Alter beziehen soll – der Öffentlichkeit als «Anhebung der Rekrutierungszahlen» zu verkaufen.

Auch an diesem Wochenende sanken wieder die Umfragewerte der Regierungskoalition und auch die des Premiers. So bleibt ihnen keine andere Wahl, als Neuwahlen zu verhindern. Keine Koalitionspartei, vor allem nicht die orthodoxen Parteien, will den Platz am gut gefüllten Futtertrog aufgeben. Von Anfang an war die Drohung, diese Koalition zu sprengen, nur ein politischer Spin, ein Ablenkungsmanöver. Davon hat diese Regierung durchaus eine Ahnung. Doch auch dafür wird sie jede Verantwortung ablehnen.

Norbert Jessen ist Journalist und lebt im Süden Israels.

Norbert Jessen