ISRAEL 19. Dez 2025

Gibt es überhaupt noch eine Opposition in Israel?

Gadi Eizenkot kurbelt die Debatte um die Opposition neu an.

Eine beiläufige Aussage zur möglichen Zusammenarbeit mit arabischen Parteien legt die strategische Leere der israelischen Opposition offen – und zeigt, wie sehr sie sich von der Regierung in eine Debatte der Ausgrenzung treiben lässt.

Gadi Eizenkot, Ex-Armeechef und derzeit Oppositionspolitiker ohne Partei und Mandat, sprach letzten Schabbat vor laufenden Kameras im Kanal 12 das Unsägliche hörbar aus: «Der Anti-Netanyahu-Block wird sich schwertun, ohne Unterstützung der arabischen Parteien eine Regierung zu bilden. Kommt es zu 58 gegen 57 Mandate, wird sich aber eine politische Lösung finden lassen.» Sofort reagierten die allzeit bereiten Propaganda-Giftspritzen der Regierungskoalition auf diese logische Anspielung auf die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit arabischen Parteien. Wie zu erwarten von einer offen rassistisch auftretenden Vereinigung. «Die Opposition kollaboriert mit Terror-Sympathisanten.»

Tabu wird ausgesprochen
Doch es wurde noch unerträglicher für die Koalition. Nur einen Tag später kündigte Mansour Abbas, Chef der arabischen Raam-Partei, an, die bisherigen Beziehungen seiner Partei mit dem Schura-Rat der Islamischen Bewegung Süd zu kappen. Er reagierte so auf Drohungen Binyamin Netanyahus, «islamistische Umtriebe» in Israel gesetzlich zu verbieten. Schon 2015 wurde die radikale und auch gewaltbereite Islamische Bewegung Nord verboten. Doch ist der südliche Zweig seit seiner Gründung 1971 nicht nur gesetzeskonform, sondern auch staatsloyal. Sie befürwortet die Teilnahme an den Knesset-Wahlen und stand hinter Mansur, als dieser 2021 mit Benjamin Netanyahu über einen Koalitionsbeitritt verhandelte. Vor vier Jahren war Mansur für die Regierungspartei auf Partnersuche noch kein Islamist und somit Terrorist, sondern «wie wir» ein konservativer Politiker, mit dem der Likud durchaus «gemeinsame Gesprächsthemen» suchen und finden konnte.

Zwanzig Prozent der Israelis sind Araber, und drei arabische Parteien stellen derzeit neun der 120 Mandate. Dazu kommen drei weitere Abgeordnete, die für zionistische Parteien kandidierten. Es könnten doppelt so viele sein, doch entsprechen zwölf Mandate der statistischen Tatsache, dass bei Knesset-Wahlen nur die Hälfte der arabischen Wähler zur Urne geht. Geht es um Sicherheits- und Aussenpolitik, schalten diese ab. Doch von Staatsverdrossenheit kann keine Rede sein. Bei Kommunalwahlen schnellt die Teilnahme oft auf über 90 Prozent. In den Rathäusern machen die arabischen Bürger die Entscheidungen nicht gegen eine automatische Mehrheit, sondern unter sich aus. Die neuen und meist jüngeren Bürgermeister sind dabei deutlich «israelischer» als die arabischen Knesset-Abgeordneten, deren «palästinensische Ausrichtung» und Vernachlässigung israelisch-arabischer Themen seit Jahren auf Kritik stösst.

Dilemma der Israel-Araber
Abbas Mansur glaubt, eine Trendwende anzuführen. Das Interesse der arabischen Wähler an Regierungsentscheidungen wächst. Der koalitionsbereite Mansur erhielt bei den letzten Wahlen überraschend viele Stimmen, die nicht aus seiner angestammten fromm-konservativen Ecke kamen. Immer mehr Araber fühlen sich als Israelis. Sie fühlen sich weiter solidarisch mit ihrem palästinensischen Volk, doch haben sie als arabische Bürger Israels ihre eigenen Interessen. In einer breit angelegten jährlichen Umfrage der Tel Aviver Universität gaben über 60 Prozent wiederholt offen zu, «stolze Israelis» zu sein. Versuche, arabische Grenzorte Israels in einem Gebietsaustausch ans Palästinensische Autonomiegebiet loszuwerden, lösten wutentbrannte arabische Proteste aus. In den Umfragen (vor 2023) war das Vertrauen der arabischen Bürger in die Armee fast gleichauf mit dem in die seit jeher geachtete Justiz.

Ein wichtiges Indiz ist auch die sprunghaft gestiegene Bereitschaft zum Zivildienst unter jungen AraberInnen. Im Rahmen der Debatte um ein neues Rekrutierungsgesetz war aus der Opposition letzte Woche plötzlich der Slogan zu hören: «Nur wer dient, wählt auch.» Wer auf diese Art glaubt, dienstverweigernde Ultra-Orthodoxe zusammen mit arabischen Jugendlichen aufs Abstellgleis manövrieren zu können, dürfte sich irren. Seitdem immer mehr arabische Bürgermeister Zivildienststellen ausschreiben, steigen die Zahlen. Das Problem ist nicht der Mangel an arabischen Freiwilligen, sondern an offenen Stellen. Gerade junge Frauen sehen den Zivildienst oft als Sprungbrett in ein späteres Berufsleben und mehr Unabhängigkeit. Und das, obwohl Dschamal Sachalka von der im Selbstbildnis «fortschrittlich-nationalistischen» Balad-Partei ihnen drohte: «Wenn ihr dient, wird euch keiner mehr heiraten wollen.»

Einige sprechen von einer «Israelisierung» der arabischen Bürger, andere von Teilnahmebereitschaft. Doch ist die Rede von einer Entwicklung, die sich seit Israels Staatsgründung andauernd verstärkt. Trotz aller Widerstände und Kriege, die immer wieder leichte Rückläufe mit sich bringen, den stetigen Trend nach oben aber nicht abbrechen lassen. Auch der 7. Oktober 2023 wird daher seine negative Auswirkung zeigen. Seit 7/10 kommen noch die Gewaltexzesse von Siedlern gegen ihre palästinensischen Nachbarn hinzu. In den letzten Wochen immer häufiger auch Angriffe jugendlicher Hooligans in Israels «gemischten» Städten gegen arabische Nachbarn. Wie am letzten Wochenende, als in Jaffo Schläger eine schwangere Frau und deren Kinder mit Pfefferspray angriffen. Innerhalb Israels sind solche Angriffe kein Massenphänomen, aber statistisch immer spürbarer.

Kein Geheimnis
Netanyahus Regierung verhehlt nicht ihre gezielte Benachteiligungspolitik gegenüber der arabischen Bevölkerung. Gleich mit Amtsantritt kürzte sie die Finanzierung eines Mehrjahresplans der Vorgängerregierung für den Kampf gegen die Gewalt des organisierten Verbrechens in den arabischen Ortschaften. Erste Erfolge waren bis dahin ohnehin nur spärlich, aber doch spürbar. In diesem Jahr stieg die Zahl der Morde wieder auf einen neuen Rekord. Einen übernommenen Mehrjahresplan der Vorgänger verlängerte sie nicht, brüstet sich aber mit dessen Erfolgen.

Dabei zeigte gerade das blutige Massaker, wie die Islamisten ohne zu unterscheiden gegen die israelische Bevölkerung losschlugen. Im Süden wie im Norden waren Juden wie Araber Opfer der brutalen Angriffe. Unter den Rettern, die am 7. Oktober 2023 unter Beschuss vor dem Massaker Flüchtende aufsammelten, waren zahlreiche arabische Anwohner. Wie unter den Opfern. Selten zuvor zeigte sich Israel deutlicher als Schicksalsgemeinschaft.

Israelische Brandmauer?
Was diese Regierung ignorierte und trotzdem wie gewohnt alles tat, an Spaltung und Hetze zu wachsen. Was zu erwarten war. Doch dass Israels Opposition nichts tut, die Brandmauer einzureissen, gibt zu denken. Statt ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit zu propagieren, lässt sie sich von Netanyahu einen Wettstreit aufzwingen: Wer verweigert sich der arabischen Wählerschaft mehr? Gibt es überhaupt noch eine Opposition in Israel? Der Klüngel aus ständig wechselnden Parteinamen kann sich auf keinen gemeinsamen Kandidaten einigen. Auf kein Ziel ausser Nur-nicht-Bibi. Trotzdem: Bis auf die vom Wähler abgehalfterten Sozialdemokraten beharren alle auf der Brandmauer. Zur pauschalisierenden Hetze der Netanyahu-Getreuen schweigen sie. Opposition – mit mehr Möchtegern-Premiers als Parteien und Strategie.

Norbert Jessen