Sidra Acharej/Kedoschim 09. Mai 2025

Thora und Tattoos

Tattoos sind heutzutage ein bekanntes Phänomen. Während Tätowierungen im Westen ursprünglich bei Matrosen und Sträflingen üblich waren, sind sie seit den späten 1990er-Jahren in der menschlichen Gesellschaft weit verbreitet – Tendenz steigend. Umso ungewöhnlicher ist es, dass die Thora nicht ins populäre Horn zu blasen scheint: «Ihr sollt keine Einschnitte an eurem Leibe machen für eine abgeschiedene Seele und sollt euch nicht tätowieren!» (3. B. M. 19:28). Das Verbot der Tätowierung wird im selben Bibelvers zusammen mit dem Verbot des Sich-Verletzens infolge eines persönlichen Verlustes erwähnt. Dies ist auf einen Brauch zurückzuführen, durch welchen antike Völker ihre Trauer zum Ausdruck brachten. Raschi erläutert: «So war die Art der Emorim (Amoriter), Einschnitte in ihr Fleisch zu machen, wenn ihnen jemand gestorben war.» Was das Verbot der Tätowierung betrifft, bemerkt Maimonides in seinem halachischen Werk «Mischne Thora»: «Jene Art von Tätowierung, welche die Thora verbietet, besteht darin, dass man sich ins eigene Fleisch schneidet und die Schnittstelle mit blauer Farbe, mit Tinte oder mit einer anderen Farbe ausfüllt, die eine bleibende Prägung hinterlässt. Dieser Brauch war unter Götzendienern sehr verbreitet, um zu zeigen, dass sie einer heidnischen Sekte angehören, als ob sie damit sagen wollten, dass sie wie Sklaven seien, die an den Götzen verkauft wurden, und dazu bestimmt sind, ihm zu dienen» (Rambam, Hilchot Awodat Kochawim 12:11, Übers. Marc Eli Bloch). Das Tätowierungsverbot fällt demnach in die breite Kategorie jener Gebote, die ursprünglich in irgendeiner Form im Zusammenhang mit «avoda sara», mit Götzendienst, standen.

Rabbiner Samson Raphael Hirsch bringt das Verbot des Sich-ins-eigene-Fleisch-Schneidens, sei es mit oder ohne folgende Tätowierung, mit dem bekannten und bis heute gängigen Brauch in Verbindung, nach dem Tod eines Angehörigen «kria» zu reissen, das heisst, unserem Hemd als Ausdruck der Trauer einen kleinen Riss beizufügen: «Spricht der Riss im Hemd das Bekenntnis aus, dass durch den Heimgang des Verstorbenen die nächste Umgebung, die engere Welt der Hinterbliebenen einen ‹Riss› bekommen, so spräche ein Schnitt in unser Fleisch den Gedanken aus, dass mit dem Tode eines Angehörigen, überhaupt eines uns nahestehenden Menschen, unser eigenes leibliches Selbst einen Bruch erlitten – und das soll es nicht. Wie wert und teuer, wie bedeutungsvoll auch das Dasein eines Menschen für uns sein möge, nie darf mit seinem Dasein Wert und Bedeutung unseres eigenen Daseins enden oder auch nur sinken. Jeder steht in eigener Bedeutung mit seinem Dasein – besser mit seinem Hiersein – in unmittelbarer Beziehung zu Gott (...) gerade der Heimgang eines uns bedeutungsvollen Menschen muss uns vielmehr zu doppelt lebensvoller Energie aufrichten, um die Lücke mit auszufüllen, die der Tod in den Dienst am Gotteswerk auf Erden gebracht.» Ein Textil als Zeichen der Trauer zerreissen – ja, aber dem eigenen Körper deswegen einen Schnitt beifügen – nein. Auch den authentischsten Trauergefühlen müssen Grenzen gesetzt werden.

Die Gebote der Thora sind bekanntlich bindend, auch wenn die historische Begründung an Bedeutung verloren hat. Insofern stellt sich die faszinierende Frage, ob dem Tätowierungsverbot ein anderer Sinn verliehen werden kann, nachdem es im Kontext einer Trauerbewältigung schon lange nicht mehr relevant ist. Raschi bemerkt in seiner Erklärung zum Talmud, dass das Tätowierungsgebot schlicht ein «Dekret der heiligen Schrift» sei (Makkot 21a). In anderen Worten: Es sei wie einige andere Gebote in die Kategorie jener Mizwot einzuordnen, deren Begründung auf rationale Weise nicht zu erschliessen sei. Der italienische Bibelexeget Seforno sieht derweil das Problem nicht im Einschnitt in den menschlichen Körper per se, sondern in der Tatsache, dass dadurch der einzig erlaubte und gar gebotene Einschnitt, nämlich die Beschneidung, an Besonderheit einbüssen würde. Um die Beschneidung als ewigen Bund zwischen jüdischen Männern und Gott hervorzuheben, seien also andere Einschnitte untersagt.

Wir wollen einen anderen Annäherungsversuch an dieses Gebot wagen. Am Anfang des Abschnitts, in welchem vom Tätowierungsverbot die Rede ist, steht ein scheinbar vollkommen unzusammenhängendes Gebot betreffend einen neu gepflanzten Baum: «Wenn ihr in das Land kommt und allerlei Obstbäume pflanzt, sollt ihr die Frucht davon als Vorhaut betrachten; drei Jahre lang sollt ihr sie für unbeschnitten achten und nicht davon essen» (19:23). Dieses Gebot, bekannt als «orla», die «unbeschnittene Frucht», sieht also vor, einen neu gepflanzten Baum während der ersten drei Jahre seines Lebens unangetastet zu lassen. Ein Mensch soll nicht gleich bei der ersten Frucht über den Baum «herfallen» und das Obst verschlingen, sondern sich an Gottes Geschenk, am Wunder der Natur und am gesunden Heranwachsen seines Baumes erfreuen. Die Terminologie sticht hier besonders ins Auge: Der Baum soll nicht «beschnitten», sondern in Ruhe gelassen werden. Vielleicht wirft dies ein neues Licht auf das einige Verse danach erwähnte Tätowierungsverbot: Will etwa die Thora den Menschen animieren, den vor Gott erhaltenen Körper – mit Ausnahme der Beschneidung, versteht sich – in seinem Naturzustand zu belassen? Käme vielleicht der Einschnitt in den eigenen Körper jenem eines jungen gedeihenden Obstbaumes in seinen ersten drei Jahren gleich, während die Thora dazu ermahnt, die wunderschöne göttliche Schöpfung unversehrt zu lassen?

Es liegt mir fern, Menschen zu beurteilen, die sich dazu entschliessen oder entschlossen haben, ein Tattoo am eigenen Körper anzubringen. Aber wenn die eben erwähnte Interpretation des Tätowierungsverbotes möglich sein sollte, so äussert die Thora anhand dieses Gebotes eine zum Denken anregende Botschaft, mit welcher sich jede und jeder ehrlich auseinandersetzen sollte, bevor man sich ein Tattoo stechen lässt.

Emanuel Cohn