Zu viele Israeli bezeichnen sogar Holocaust-Überlebende als antisemitisch. Wenn ich, ein Überlebender der Schoah, meine Meinung sage, werde ich als antisemitisch bezeichnet. Selbst wenn die Kritik sich auf den Krieg in Gaza bezieht, den ehemalige israelische Verteidigungs- und Sicherheitschefs inzwischen als sinnlos bezeichnen, ist die Reaktion immer dieselbe.
Israel und viele Israelis instrumentalisieren zunehmend den Begriff «Antisemitismus». Was einst für schrecklichen Hass stand, ist zu einem Schutzschild geworden, um legitime Kritik an der Politik der Regierung abzuwehren.
Wenn jemand, insbesondere ein Nicht-Israeli, unsere Behandlung der Palästinenser kritisiert, ohne dabei die Propaganda der Hamas zu wiederholen, sondern sich auf glaubwürdige, gut dokumentierte Berichte über die von uns begangenen Gräueltaten stützt, werden wir schnell mit dem Etikett «Antisemitismus» abgestempelt.
Diese Abwertung des Begriffs macht ihn zu einem Instrument, um sich der Verantwortung zu entziehen. Jede Kritik, egal wie berechtigt sie auch sein mag, wird mit dem gleichen abgedroschenen Refrain abgetan: Antisemitismus. Es ist eine bequeme Ausrede, die uns die schmerzhafte, aber notwendige Arbeit erspart, in den Spiegel zu schauen.
Palästinenser werden aus ihren Häusern im Westjordanland vertrieben. Der Gazastreifen liegt in Trümmern. Hungernde palästinensische Kinder betteln auf den Strassen. Israelische Soldaten haben den Befehl, auf Zivilisten zu schiessen, die in Schlangen auf Essen warten. Wie kann man angesichts der Tatsache, dass dieser Krieg beendet werden kann, schweigen?
Wenn ich meine Meinung sage, werde ich als antisemitisch bezeichnet. Selbst wenn die Kritik sich gegen den Krieg in Gaza richtet, den ehemalige Chefs der Armee, des Sicherheitsdienstes Shin Bet und des Mossad inzwischen als sinnlos bezeichnen, ist die Reaktion immer dieselbe. Ein antisemitischer Holocaust-Überlebender? Wie tragisch und absurd.
Der übermässige Gebrauch des Begriffs «Antisemitismus» hat ihn seiner Kraft beraubt. Einst trieb Antisemitismus Israel in die Isolation, heute schüren Israels Handlungen den Antisemitismus. Was einst als Verkörperung des Überlebenskampfes des jüdischen Volkes galt, wird heute zunehmend als globales Problem wahrgenommen, und diese Wahrnehmung wird sich nur noch verstärken.
Die grosse Mehrheit der Studenten, die weltweit gegen Israel protestieren, sind nicht antisemitisch. Viele von ihnen sind sogar Juden. Sie sind nicht gegen Juden, sie sind gegen Israel. Und sie haben gute Gründe dafür. Wenn wir diese Stimmen ignorieren, machen wir uns blind für die Richtung, in die wir uns bewegen.
Wollen Sie wissen, wie es weitergeht? Hören Sie sich an, was an den Universitäten gesagt wird. Die Studenten von heute sind die Führungskräfte von morgen in Ländern und globalen Organisationen. Die Abneigung gegenüber Israel wird sich nur noch verstärken, und die antiisraelische Stimmung wird sich in Antisemitismus verwandeln.
Bald wird es gefährlich sein, als Jude – und erst recht als Israeli – identifiziert zu werden. Früher schürte Antisemitismus die Entfremdung von Israel. Heute hat sich die Dynamik umgekehrt: Die Verbindung zu Israel schürt den Antisemitismus.
Die pauschale Erklärung mit «Antisemitismus» entlastet auch Israels öffentliche Diplomatie. Als ich hochrangige Beamte des Aussenministeriums fragte, warum es keine ernsthaften internationalen Friedensbemühungen gebe, war ihre Antwort vielsagend: «Es hat keinen Sinn, etwas zu erklären, denn sie hassen uns sowieso.»
Ja, Israel hat das Recht, sich zu verteidigen. Aber sind alle seine Handlungen wirklich gerechtfertigt? Ist der weltweit wachsende Hass gegen uns nur in Vorurteilen begründet, oder ist er eine natürliche menschliche Reaktion auf die Bilder, die die Bildschirme der Menschen überschwemmen – Bilder, die das Herz zerreissen?
Wir müssen uns fragen: Sollen wir weiterhin jede Kritik zurückweisen und uns hinter einem «heiligen» Begriff verstecken, bis er jede Bedeutung verliert?
Ichak Kalderon Adizes, ein Holocaust-Überlebender, ist Gründer und CEO des Adizes Institute Worldwide, das Organisationen dabei unterstützt, schnelle Veränderungen ohne destruktive Konflikte umzusetzen.
zur lage in israel
25. Jul 2025
Sind Schoah-Überlebende Antisemiten?
Ichak Kalderon Adizes