Zwischen den Büchern Hiob und Kohelet, die zu den pessimistischsten Büchern der Bibel gehören, steht das optimistische Buch Ruth, das eine Anomalie darstellt und die vielleicht utopischste aller biblischen Geschichten erzählt. Die zur Erntezeit spielende Idylle handelt von der Moabiterin Ruth, die trotz grosser Not und nach dem Verlust ihres Mannes in einem Akt grossen Glaubens die jüdische Religion annimmt. Sie verlässt ihre Familie, ihr Land und ihr Volk, um ihre Schwiegermutter Noemi in deren Heimatstadt Bet Lechem zu begleiten. Dort, umgeben von reifen Gerstenfeldern, trifft Ruth ihren zukünftigen Ehemann Boas, der sie wegen ihrer tugendhaften Taten in sein Herz schliesst.
Die Idee der Nächstenliebe und des Mitgefühls, die sowohl Ruth gegenüber ihrer Schwiegermutter als auch Boas gegenüber Ruth zeigen, als er ihr erlaubt, auf seinem Feld zu ernten, sind mit der Idee von «chesed» («Güte») und des Altruismus verbunden, für die Schawuot, das Wochenfest, bekannt ist. Die Aufnahme der nicht jüdischen Ruth in die Familie und in die jüdische Religion zeugt von der Toleranz des Judentums gegenüber anderen Religionen. Dies wird durch die Tatsache verstärkt, dass das Buch mit der Erwähnung endet, dass König David ein Nachkomme Ruths ist.
Die Geschichte verläuft völlig konfliktfrei, die Figuren sind einfach und positiv gezeichnet und streben stets das Gute an. Selbst Orpa, die andere Schwiegertochter Noemis, die sich entscheidet, zurückzubleiben, tut dies auf Noemis Wunsch und aus einem nachvollziehbaren Grund.
Am bemerkenswertesten und manchmal übersehen ist die besondere Beziehung zwischen Ruth und Noemi. Wir sind es gewohnt, das Buch Ruth als eine Liebesgeschichte zwischen Ruth und Boas zu sehen, aber wenn wir genau hinschauen, sehen wir, dass es auch eine Liebesgeschichte zwischen diesen beiden Frauen ist. Die Beziehung zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter, die normalerweise (besonders in jüdischen Familien) als Klischee einer toxischen Beziehung gilt, erscheint hier als Ideal.
Noemi kümmert sich vom ersten Moment der Geschichte an um Ruth und schlägt ihr vor, bei ihrer Familie zu bleiben. Ruth ist Noemi von Anfang an treu und die einzige Bitte ihrer Schwiegermutter, die sie ablehnt, ist die, sie zu verlassen und zu ihrer moabitischen Familie zurückzukehren: «Dränge mich nicht, dich zu verlassen und mich von dir abzuwenden. Denn wo du hingehst, da will ich auch hingehen, und wo du bleibst, da will ich auch bleiben; denn dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott». Die beiden so gegensätzlichen Frauen – die eine alt, die andere jung, die eine Jüdin, die andere nicht, die eine aus einer angesehenen, die andere aus einer einfachen Familie – werden von da an unzertrennlich: «Nur der Tod soll uns scheiden.»
Ruth, durchsetzungsfähig, mutig, unabhängig und gleichzeitig Noemi gegenüber loyal, handelt mit göttlicher Demut und Vertrauen in ihre ältere Schwiegermutter Noemi, die ihrerseits alles in ihrer Macht Stehende tut, um ihrer Schwiegertochter ein besseres Leben zu ermöglichen. Selbst der erotische Teil der Verführung von Boas durch Ruth wird ganz von Noemi inszeniert. Diese sagt Ruth genau, was sie tun soll, und Ruth befolgt ihre Anweisungen bis ins kleinste Detail.
Die Namen Ruth und Noemi werden zu Synonymen für eine untrennbare himmlische Verbindung (Chaim Nachman Bialik war bekannt für seine Aussage, dass Jiddisch und Hebräisch wie Ruth und Noemi seien). Die beiden sehr unterschiedlichen Frauen, die die Geschichte beginnen, sind auch diejenigen, die sie beenden. Wie eine untrennbare Einheit erscheint die Geburt Obeds, als ob sie von beiden gemeinsam ausgegangen wäre. In der Schlussszene nimmt Noemi Ruths Neugeborenes auf ihren Schoss, als die Nachbarinnen rufen: «Ein kleiner Junge für Noemi, sein Name ist Obed, und er wird der Vater von Isai sein, dem Vater Davids.»
Oded Fluss ist Leiter der Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich.
standpunkt
30. Mai 2025
Schwiegermutter und Schwiegertochter
Oded Fluss