zur lage in israel 30. Mai 2025

Panzer oder Paragrafen

Eine Zeitreise kann in die Vergangenheit oder in die Zukunft führen. Im Morgenmagazin des Radiosenders Kan waren sich die Hörer nicht sicher, wohin die Reise ging. Arye Golan, ein Urgestein in der israelischen Medienlandschaft, interviewte Mosche Nissim, der von den 1950er Jahren bis in die 1990er Jahre als Minister in fast allen Likud-Regierungen dieser Zeit seinen Platz hatte. Zur Erinnerung: Der Likud war einmal eine Partei mit liberalen und konservativen Wurzeln, die 1977 unter Menachem Begin zum ersten Mal eine Regierung bilden konnte. Die aber, so der 90-jährige Nissim, mit dem Likud von heute unter Premier Netanyahu keine Gemeinsamkeiten mehr aufweist. «Da geht es nicht mehr um Grossisrael oder Zweistaatenlösung, um freiheitliche Grundsätze zum Wohle aller, da ist nichts Ideologisches mehr: Nur noch Machtkampf zur Durchsetzung ganz persönlicher Interessen.» Eine Stimme aus dem letzten Jahrhundert redet von Israels Zukunft.

«Wir bewegen uns an einem rutschigen Abhang, der in bislang ungeahnte Tiefen zu führen droht», warnte Israels früherer Justizminister, «es geht um eine wirkliche Bedrohung der Einheit unseres Volkes, und es besteht echte Furcht vor einer Spaltung.» Nissim sprach nicht über die Ausweitung der israelischen Offensive im Gazastreifen oder die weltweite Kritik am Andauern der weltweit kritisierten humanitären Krise. Nissim bezog sich auf Israels innere Krise, die 2023 über Monate hinweg Israels inneren Frieden zerrüttete und die Hamas mit zum Massaker im Süden Israels anstachelte. Letztlich blieben die Versuche, Israels Justiz vor allem durch eine Entmachtung des Obersten Gerichts umzukrempeln, in den Massenprotesten auf Israels Strassen stecken. Nur einen kleinen Teil ihres Plans konnte die Regierung 2023 umsetzen. Was sie nicht daran hindert, 2025 – mitten im Krieg – eine Politik zu führen, die jeden juristischen Rahmen sprengt und das Oberste Gericht einfach ignoriert.

Was mit der Kündigung des Geheimdienstchefs Ronen Bar im März begann, wird im Juni mit der Ernennung von General David Sinni weitergeführt, obwohl die Rechtsberaterin der Regierung, Gali Baharav-Miara, die Kündigung als nicht gesetzeskonform kritisierte. Netanyahu, so die Juristin, befindet sich in dieser Frage in einem Interessenkonflikt – sowohl als Angeklagter im eigenen Korruptionsprozess wie auch als Chef von zwei engen Mitarbeitern seines Büros, die beschuldigt werden, Geheimnisse an ausländische Medien verraten zu haben und dafür von einem katarischen Agenten bezahlt worden zu sein. Nachdem das Oberste Gericht die Einschätzung der Rechtsberaterin bestätigte, machte die Regierung weiter, als ob die Entscheidung des Obersten Gerichts bedeutungslos sei. Was auch gleich mehrere Minister in fast schon genüsslichem Ton bekräftigten.

Netanyahu selbst sprach letzte Woche von einem «Deep State», der gegen ihn gerichtet sei. Der ist in Israel leichter zu definieren als andernorts. Zu ihm gehören alle Widersacher Netanyahus. Widersacher wiederum ist jeder, der Netanyahu nicht zustimmt. Allen voran die «Torwächter der Demokratie», die in der Justiz und der Exekutive die Einhaltung der Gesetze beaufsichtigen. Auch die Wahrung der Gesetze durch die Regierung.

Wie etwa eine Rechtsberaterin, die ihre Aufgabe darin sieht, die Regierung vor illegalen Massnahmen in ihrer Politik zu warnen, ohne Rücksicht auf die Interessen des jeweiligen Regierungschefs und der Minister. Netanyahu sieht die Rechtsberater jedoch vielmehr als Rechtsanwälte, die die Interessen der Regierung zu vertreten haben, auch wenn sie ihnen nicht zustimmen. Die Aufgabe des Rechtsberaters hat ihre Grauzonen, doch schon in den 1960er Jahren bestätigte eine richterliche Kommission die Unabhängigkeit des Amtes. Ein Rechtsberater kann nicht nach politischem Gutdünken ernannt und auch nicht gekündigt werden. Ein bestimmtes Ernennungsverfahren wurde dafür eingerichtet, in dem die Politiker ein wichtiges Mitspracherecht haben, aber nicht allein entscheiden. Ähnliche Verfahren bestehen für höhere Beamte und Richter.

Netanyahus Justizminister Jariv Levin versucht, die Ernennungsgremien langfristig durch regierungsgenehme Vertreter zu besetzen. Kurzfristig versuchte er, die Gremien zu beeinflussen, indem er unbequeme Neuernennungen verhinderte. Das Oberste Gericht zwang die Regierung aber, die gesetzlich festgelegten Fristen für Neuernennungen einzuhalten. Nur so konnte die Wahl des neuen Präsidenten am Obersten Gericht, Jizchak Amit, doch noch durchgesetzt werden. Seiner Vereidigung blieben die Regierungsvertreter demonstrativ fern.

Mehrfach bestätigte das Oberste Gericht die bestehende Rechtslage, der zufolge die persönliche Loyalität eines Beamten zum Premier nicht entscheidend sein kann. Netanyahu führte aber den Mangel an persönlicher Loyalität und Vertrauen beim Rauswurf des Geheimdienstchefs Ronen Bar als entscheidenden Grund an. Worauf gleich drei ehemalige Geheimdienstchefs auf die Gefahr dieses Kriteriums hinwiesen – zwei von ihnen wurden von Netanyahu selbst ins Amt gerufen: Alle drei berichteten von seinen Versuchen in den letzten Jahren, den Geheimdienst für seine persönlichen Zwecke einzuspannen. Etwa gegen politische Gegner der parlamentarischen wie der ausserparlamentarischen Opposition. Oder um die Auftritte des Angeklagten Netanyahus vor Gericht als «Sicherheitsgefährdung» darzustellen und so zu verzögern oder ganz zu verhindern.

Auch die Ernennung von General David Sinni diese Woche wurde wieder mit der Forderung nach persönlicher Loyalität begründet. Auch diese Ernennung fand statt, obwohl der gerichtlich bestätigte Interessenkonflikt weiter besteht. Keine der bestehenden Vorschriften zur Ernennung wurde eingehalten. So hatte Netanyahu nicht den Armeechef darüber unterrichtet, dass er mit Sinni über eine Ernennung gesprochen hat. In Israel dürfen Generäle nur mit Erlaubnis des Armeechefs mit Politikern reden. Armeechef Eyal Samir reagierte umgehend und suspendierte Sinni von seinem Armeeposten.

«Das ist nicht die übliche Fahrlässigkeit und Inkompetenz, wie wir sie von dieser Regierung gewohnt sind», folgerte die Tageszeitung «Maariv», «hier sucht Netanyahu gezielt die Konfrontation mit allem, was unserer Demokratie wie unserer Sicherheit zugrunde liegt. Noch niemals waren wir einem Bürgerkrieg so nah.» Ein Befund, der durch öffentliche Äusserungen der extremistischen Minister im Kabinett bestätigt wird. So sieht sich Itamar Ben-Gvir, der Minister für Innere Sicherheit, gar selbst als Justizopfer: «Das Oberste Gericht überrollt die Regierung!» Kommunikationsminister Schlomo Kari aus dem Likud sprach es noch unumwobener aus: «Wir fühlen uns dem Obersten Gericht gegenüber nicht zur Treue verpflichtet.»

Aharon Barak, der legendäre ehemalige Präsident des Obersten Gerichts, wurde einmal gefragt, was passiert, sollte ein Premier die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs missachten und nicht umsetzen. Seine Antwort: «Das wäre Rebellion. Das wäre Putsch. Und dann entscheiden die Panzer. Der Armeechef kann dann mit den Panzern das Gericht verteidigen oder die Regierung und damit die Sache auf die eine oder andere Art entscheiden. Verteidigt der Armeechef die Regierung, bleibt dem Richter nur der Rücktritt.»

Norbert Jessen ist Journalist und lebt im Süden Israels.

Norbert Jessen