Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) ist nicht bekannt für Klarheit, wenn es um Konflikte geht, die ihm selbst wehtun. Die Haltung des ÖRK gegenüber der russisch-orthodoxen Kirche und deren Rolle als Kriegstreiberin gegen die Ukraine ist bestenfalls schwammig. Klare Worte fehlen. Gegenüber Israel ist das ganz anders. Der Zentralausschuss des ÖRK verurteilt Israels als Apartheidstaat. Damit positioniert sich der ÖRK nun offen antisemitisch: Er verletzt die Drei-D-Regel und lastet dem jüdischen Staat in einer Täter-Opfer-Umkehr faktisch an, dass man ihn seit 77 Jahren aus dem Nahen Osten ausradieren will. Der ÖRK, wie der Staat Israel 1948 gegründet, tut sich offensichtlich schwer damit, dass es eine Heimstätte für Jüdinnen und Juden aus der ganzen Welt gibt.
Eigentlich hätte der ÖRK als eine Art «Völkerbund» der Kirchen bereits in den 1930er Jahren ins Leben gerufen werden sollen. Als es im Jahr 1948 schliesslich zur Gründung kam, überging man die römisch-katholische Kirche. Bis heute ist der in Genf domizilierte ÖRK darum ein Scheinriese. Er vertritt von den weltweit rund 2,5 Milliarden Christinnen und Christen lediglich 580 Millionen, also kaum 24 %. Ihm gehören 365 verhältnismässig kleine und sehr zersplitterte Kirchen aus 120 Ländern an, hauptsächlich evangelischer und orthodoxer Provenienz. Die grössten christlichen Bewegungen, die römisch-katholische Kirche (1,2 Milliarden Mitglieder) und die evangelikalen Kirchen (etwa 700 Millionen Menschen) gehören dem ÖRK nicht an.
Mit Mitgliederbeiträgen von gesamthaft lediglich 3,3 Millionen Franken pro Jahr zeigen die Mitgliedkirchen, dass sie den ÖRK schwach halten wollen. Mehr als ein Papiertiger liegt da nicht vor. Etwas mehr machen die Programmbeiträge aus (ca. 10 Millionen Franken). Solche Sonderfinanzierungen fliessen zum grossen Teil in Kerosin (damit an internationalen Versammlungen der Weltnorden u. a. für die Umweltzerstörung gerügt werden kann), zum einem Teil aber auch in EAPPI, ein fragwürdiges Programm, das in Samaria und Judäa Checkpoints überwacht: Unter dem Vorwand, Palästinenser zu schützen, werden Argumente gegen Israel gesammelt. In Zypern, Ägypten, Tibet, Kaschmir oder Berg-Karabach gibt es keine vergleichbaren Programme. Das zeigt, dass es um eine Obsession geht: Juden und nur Juden sollen als Schuldige identifiziert werden.
Der ÖRK wird durch ein Zentralsekretariat in Genf geleitet, einen Exekutivausschuss aus 20 Personen, durch Zusammenkünfte eines 150-köpfigen Zentralausschusses alle zwei Jahre und durch Vollversammlungen alle acht Jahre. Im Vorfeld zur letzten Vollversammlung im Herbst 2022 in Karlsruhe zeichnete sich ab, dass nicht die kriegstreibende Theologie des Patriarchen von Moskau, Kyrill I., und die russische Aggression gegen die Ukraine, sondern Israel verurteilt werden sollte. Dank der Klarheit u. a. der deutschen Kirchen sowie der Evangelischen Kirche der Schweiz (EKS) konnte eine einseitige Verurteilung Israels abgewendet werden. Doch die Stimmung im ÖRK war klar antiisraelisch. Für alle, die sich im jüdisch-christlichen Gespräch engagieren und sensibilisiert sind für die antisemitische Seite der sogenannten Israel-Kritik, konnte eine Katastrophe knapp abgewendet werden.
Drei Jahre nach Karlsruhe und keine zwei Jahre nach dem 7. Oktober sind die antisemitismuskritischen Stimmen anlässlich der Tagung des Zentralausschusses in Johannesburg, Südafrika, im «Konsensverfahren» mundtot gemacht worden. «Konsensverfahren» bedeutet, dass sich die Gegner einer Vorlage zwar äussern können, ihre Gegenstimme aber nicht gezählt wird. So wurde die Stimme der EKS unsichtbar gemacht: Man könnte meinen, unsere Vertreterin in Südafrika, die Präsidentin des Rates der EKS, Pfarrerin Rita Famos, hätte in den antiisraelischen und antizionistischen Chor der Welt eingestimmt. Doch dem war nicht so.
Jesus hatte eine Bewegung um sich gesammelt, die ein Gegenpol zur Welt sein wollte. Seine Jünger sollten gerade nicht so handeln, wie alle Welt es tut. Verurteilungen, Vergeltung, Gewalt, Hierarchie, Demütigung und vieles mehr sollte es unter denen, die Jesus nachfolgen, nicht geben. So verkündigte Jesus ein Gottesreich – gekommen ist die Kirche. Viele Kirchenvertreter sind heute geradezu stolz darauf, ganz weltlich zu sein. Die Kirchen der Schweiz lassen in Studien beweisen, wie sehr sie mit ihren sozialen Diensten Mehrkosten für den Staat minimieren. Ihr Reden vom Gott Israels und ihre Verpflichtung auf die hebräische Bibel und das Neue Testament stellt man verschämt hintenan. Von der Welt hat man auch den gemeinantiken Antijudaismus übernommen und diesen zum Antisemitismus weiterentwickelt. Antijudaismus lehnt man offiziell zwar ab, übernimmt in den Argumentationen aber gerne antisemitische Stereotype, wenn es um Antizionismus und Antiisraelismus geht, und beteiligt sich gerne an der grassierenden Verurteilungsathletik. Es gibt viele Christinnen und Christen, die sich stolz antizionistisch outen, ohne sich dem Umstand zu stellen, dass Antizionismus per Definitionem antisemitisch ist.
Die reformierten Kirchen in der Schweiz sehen sich gerne als der Reformation entsprungene Bildungskirchen. Sie halten akademische Kontextualisierungen und Differenzierungen hoch. Doch auch sie schrammten diesen Sommer haarscharf an einer einseitigen Verurteilung Israels vorbei. Ausgerechnet die Kontextualisierung des Gazakriegs wollte man aus einer Resolution streichen. Man übernimmt von der Welt eben auch die Sprechchöre derer, die seit dem ESC die Innenstädte von Basel und Bern für Juden gefährlich machen.
So dürfte sich manche Schweizerin und mancher Schweizer gefreut haben über das Verdikt des ÖRK gegen Israel, obwohl es aus der Feder einer Organisation stammt, die zunehmend von antiliberalen und fundamentalistischen Kräften dominiert wird, die auch uns Schweizerinnen und Schweizer im Zuge einer postkolonialistischen Ideologisierung pauschal zu Täterinnen und Tätern stempelt. Und schliesslich formuliert der ÖRK in einem seiner neueren zentralen Dokumente, dass die Schuld für den Niedergang des Christentums in Europa bei den Kirchen der Reformation liege. Schreibt’s – und formuliert eine antisemitische Breitseite gegen Israel.
Lukas Kundert (1966) ist Pfarrer am Basler Münster, Kirchenratspräsident der Reformierten Kirche Basel-Stadt und Professor für Neues Testament an der Universität Basel. Er ist Präsident der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft beider Basel sowie der Swiss Church Israel. Er hat in Basel Theologie und an der Hebrew University in Jerusalem zwei Jahre lang Judaistik studiert.
standpunkt
25. Jul 2025
Obsessiv – das Verhältnis des ÖRK zu Israel
Lukas Kundert