die literarische Kolumne 19. Sep 2025

Nur nicht anders sein

«Die Einzigartigkeit des Anderen wird immer mehr verraten.»
Jacques Derrida


Die Menschen scheinen immer mehr nur noch als Masse erhältlich zu sein. Der Mensch in der Masse verfügt über einen sauberen, lückenlosen Lebenslauf, mit dem er eine Karriereplanung vornimmt. Das Ziel: eine lebenslange Anstellung oder auch der lebenslange Verlauf der Lebenszeit. Geplant ist ein stetiger Aufstieg in der Hierarchie, saubere zweite und dritte Säule, ein Eigenheim. Natürlich auf immer verschuldet, weil das System nur auf Schulden basiert und der Mensch in einer Abhängigkeit bleiben muss, sonst würde der ja seine Lebenszeit nicht verkaufen. Nur ein Schuldner ist ein guter Mensch, nur ein Angestellter kommt in den Genuss eines Arbeitgebers, der Teile der Rentenvorsorge und der Krankenversicherung trägt, auch bei der Wohnungsvergabe, insofern es doch nicht für ein Eigenheim reichte, wird der Mensch mit dem ordentlichen Anzug und dem Angestellten-Leben bevorzugt. Er ist ein guter Mensch. Ein williger Mensch. Himmel wer hat sich den Mist mit der Koalition der Willigen ausgedacht? Das klingt wie ein schlechter Filmtitel. Egal, zurück zum Thema. Der gute Mensch ist bereits ein guter Jugendlicher. Er sieht aus wie alle jungen Menschen, zur Not mit einer massenkompatiblen Operation. Er hört die Musik, die alle hören, die klingt, wie alle Musik, die die guten Menschen immer hörten, Taylor Swift, ein Medley der seichtesten Popsongs der letzten 20 Jahre. Der Jugendliche hat gelernt, dass er sich keine Fantasie und keine Wildheit erlauben darf, dass er sich eingliedern muss, funktionieren muss, sonst landet er im Abseits, bei den Pennern, den Spinnern, den Aussenseitern, die heute nicht einmal mehr Häuser besetzten können, denn sofort steht die Polizei auf der Matte. Jeder Zentimeter Freiraum ist heute Anlagemasse geworden. Kommerzialisiert, ausgebeutet wie die Leute, die in einer Schachtel wohnen, aber mit Loggia und Wohnküche. Nach dem Tag in einer glücklichen Anstellung verwaltet sich der Mensch, ohne zu hinterfragen, warum Versicherungen, Banken, Bahnen alle Bereiche des öffentlichen Lebens deren Serviceleistung der Mensch zahlt, warum also diese Serviceleistung an den Verbraucher, Kunden, Konsumenten ausgelagert wurden. Die Massen der guten Menschen haben kein Erbarmen mit vom System Ausgemusterten, man liest nicht täglich von Armut, Obdachlosigkeit in Europa, von Familien, die aus ihren Wohnungen geworfen werden, von Menschen mit drei Jobs und chronischer Erschöpfung, von Altersarmut, von allen die von einer Norm abweichen, die auf Propaganda beruht, will man nichts wissen, denn vielleicht ist das Anderssein ansteckend.

Nur nicht ausgemustert werden, darum füttern wir Kinder mit Psychopharmaka, darum nehmen Erwachsene Ritalin, Aufputsch- und Schlafmittel, Beruhigungstabletten, um dieses Leben unauffällig zu absolvieren, als glückliche Konsumenten von Schrott. Egoistisch, abgestumpft, unauffällig – nur kein Freak sein, sonst werden wir von Maschinen aussortiert, nur ruhig sein, und verachten, was da am Boden liegt.

Sibylle Berg ist deutsch-schweizerische Schriftstellerin und Dramatikerin. Sie lebt in Zürich.

Sibylle Berg