Der israelische Premierminister Binyamin Netanyahu steckt in der Zwickmühle. Die grosse Mehrheit seiner Landsleute wünscht sich, dass die noch von der Terrororganisation Hamas festgehaltenen 59 Geiseln, von denen 23 noch leben sollen, möglichst rasch freikommen. Netanyahu selbst hat indessen die Vernichtung der Hamas zu seinem obersten Ziel erklärt.
Dafür gibt es gute Gründe. Denn wenn die palästinensische Terrorgruppe in Gaza weiterhin an der Macht bleibt und sich wieder bewaffnen kann, dann ist der nächste «7. Oktober» programmiert.
Mit dieser Begründung hat Netanyahu deshalb den Vorschlag der Hamas abgelehnt, als Gegenleistung für die Freilassung sämtlicher 59 Geiseln eine fünfjährige Waffenruhe einzugehen.
Doch diese Begründung ist nur vorgeschoben. Denn dieser Vorschlag stürzt die israelische Regierung nur scheinbar in ein Dilemma.
Die israelische Regierung könnte nämlich der Hamas als Gegenleistung für die Freilassung der noch gefangenen Geiseln zunächst einen fünfjährigen Frieden versprechen. Um dann nach der erfolgten Freilassung von diesem Versprechen wieder Abstand zu nehmen und die Hamas erneut zu bekämpfen.
So lange, bis die Terrororganisation entweder vernichtet oder zumindest sichergestellt ist, dass sie in Gaza weder politisch noch militärisch je wieder eine Rolle spielen kann.
In Europa und der Uno würde ein derartiger Wortbruch wohl mit (gespielter) Empörung quittiert. Aber für Israel gibt es keine moralische oder rechtliche Verpflichtung, eine Abmachung mit einer mörderischen Terrororganisation einzuhalten, deren erklärtes Ziel die Vernichtung Israels und der Juden ist.
Bei den arabischen Nachbarstaaten hätte ein solcher «Vertragsbruch» für Israel ausser ein paar verbalen Protestnoten keine echten Konsequenzen. Denn dort gehören gebrochene Versprechen zum politischen Tagesgeschäft und dies ist allen Akteuren bewusst.
Für Israel zählt deshalb einzig, dass ein solcher Wortbruch mit Rücksicht auf die Geiseln sowie auch militärisch und politisch Sinn machen würde.
Aus Sicht der Geiseln, weil sie so möglichst rasch freikämen. Und militärisch, weil kein Staat es sich auf Dauer leisten kann, an seinen Grenzen eine Organisation zu dulden, deren erklärtes und in einer Charta verbrieftes Ziel die Vernichtung eben dieses Staates und seiner Bevölkerung ist.
Politisch, weil Israel damit für die Terrororganisation unberechenbar würde. Denn ein solcher Rückzieher würde zeigen, dass sich Israel von Mörderbanden nicht erpressen lässt und bereit ist, Verträge zu brechen, wenn es um den Schutz der eigenen Bevölkerung und eigenen Existenz geht.
Es sprechen also weder militärische noch politische Gründe dagegen, einen Deal mit der Hamas einzugehen – und ihn zu brechen, nachdem alle noch verbliebenen Geiseln freigekommen sind. Weshalb also handelt Netanyahu nicht so?
Weil seine Regierung bei einem (vorläufigen) Friedensschluss mit der Hamas auseinanderfallen würde. Denn die Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich würden mit ihren beiden rechtsextremen Parteien die Regierung verlassen und es käme zu vorgezogenen Neuwahlen.
Dies wäre allen Meinungsumfragen zufolge das Ende von Netanyahus Likud als Regierungspartei und sein Ende als Premierminister. Damit würde er seine Immunität verlieren, die ihn derzeit vor der Strafverfolgung in einer Reihe von Korruptionsfällen schützt.
Mit anderen Worten: Das wirkliche Dilemma Netanyahus besteht darin, dass ihm nach Ende des Gaza-Krieges und seiner anschliessend zu erwartenden Abwahl Gefängnis droht.
Sacha Wigdorovits ist Publizist und Präsident des Vereins Fokus Israel und Nahost.
Sacha Wigdorovits
23. Mai 2025
Netanyahus Friedensproblem
Sacha Wigdorovits