Sidra Wajelech 26. Sep 2025

Moses und die Selichot

Der kurze Wochenabschnitt Wajelech hat gerade einmal 30 Verse, ein einziges Kapitel (Dewarim 31) und die kürzeste Parascha der gesamten Thora. Pro Alija gibt es kaum mehr als vier Verse. Entweder ist die Parascha mit Nitzawim zur Doppelparascha vereint und wird dann vor Rosch Haschana gelesen oder Wajelech fällt auf den Schabbat zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur und heisst, entsprechend dem einleitenden Wort in der Haftara, Schabbat Schuwa. Wie immer man es drehen will, Wajelech wird vom aktuellen Thema der Saison, der Teschuwa, überlagert. Als Wochenabschnitt bleibt Wajelech so etwas «verschupft». Das mag auch am Inhalt liegen: Das letzte Stück von Mosches Abschiedsrede ist ein bisschen verwirrend, ein Sammelsurium. Die Versuchung ist daher gross, Wajelech links liegen zu lassen und sich auf das Thema der Teschuwa zu konzentrieren.

Besonders in der jetzigen Jahreszeit ist es jedoch nicht unbedingt ratsam, sich einer Versuchung hinzugeben. In wenigen Tagen ist Jom Kippur. Unter den unzähligen Gebeten, die wir während des langen Tages auch noch mehrere Male wiederholen, ragen die «Selichot» heraus. Es sind Gebete, mit welchen wir uns unserer Vergehungen und Sünden bewusst werden und sie bereuen sollen, um nach Jom Kippur möglichst geläutert ins neue Jahr zu steigen.

Eine Meditation bewegt sich entlang des traditionellen Textes und führt uns zu unseren Sünden, fokussiert aber nicht auf die Sünde an sich, sondern unterscheidet, gegen wen wir sie begangen haben. Zuerst wollen wir uns den Sünden zuwenden, die wir gegen uns selber begangen haben. Dann kommen die Sünden gegenüber Gott dran. Und schliesslich widmen wir uns den Sünden gegenüber unseren Nächsten. Es ist eine Art von «ich-du-er/sie/es».

Eine ähnliche Aufteilung ergibt sich bei der dreifachen Wiederholung der Selichot während des ganzen Tages. Am Abend sammeln wir, ganz Bilanz ziehend, was alles schiefgelaufen ist. Am Morgen fragen wir uns, wie und warum das alles passiert ist; damit verinnerlichen wir die Sünden, sie werden Teil von uns selbst – und regen uns hoffentlich an, «etwas» daraus zu machen. Am späten Nachmittag, zu «neila», wenden wir die Erkenntnisse nutzbringend auf die Zukunft an, wenn wir uns vornehmen, all das nicht wieder zu tun. Das Muster hier lautet «gestern-heute-morgen». Mit den beiden Mustern «ich-du-er/sie/es» und «gestern-heute-morgen» entsteht rund um unsere Sünden eine 3x3-Matrix, die unsere Befindlichkeit umfassend abbildet.

Und was ist jetzt mit Wajelech? Samson Raphael Hirsch bietet hier eine verblüffende Beobachtung: «Mit den Segen- und Fluchverkündigungen (‹Ki Tawo›) und dem darauf folgenden Nachwort (‹Nitzawim›) war das beendet, was Moses im Namen Gottes an das Volk zu richten hatte. Er durfte daher seine Sendung für geschlossen ansehen und wendet sich ganz den Anforderungen des Augenblicks, nämlich dem zu, was ihm noch vor seinem Scheiden und in Hinblick auf dasselbe zu tun übrig war. Es war dies: Abschied von dem Volk zu nehmen (v. 1–6), ihm seinen Nachfolger mit auch ihn ermutigenden Worten vorzustellen (v. 7–8), endlich die bis dahin vollendete Thoraschrift den Priestern und Ältesten des Volkes mit der Weisung zu übergeben, daraus nach jedem siebten Jahre der an der Gottesstätte des Gesetzesheiligtums vereinten Festversammlung des Volkes vorzulesen (v. 9–13).»

Mosche spricht zuerst über sich, dann zu seinem Nachfolger Jehoschua, schliesslich zum Volk. Es sieht aus, als ob Mosche das Muster «ich-du-er/sie/es» aus der Selichot-Meditation bereits verinnerlicht hatte. Wajelech selbst enthält somit die Aufforderung zur Teschuwa, wenn auch etwas versteckt, und dies auch ohne die spezielle Haftara. Auch die Versuchung war damit nicht nötig.

Rabbiner Bea Wyler