In Charlie Chaplins Film «Der grosse Diktator» (1940) gibt es neben der grandiosen Schlussrede des Frisörs, in der er die Menschheit zu Frieden aufruft und ihnen eine hoffnungsvolle Zukunft prophezeit, wenn sie einander mit Respekt und nicht mehr mit Krieg und Terror begegnen, zwei weitere erwähnenswerte Szenen. Da ist zum einen jene schier unglaubliche Sequenz, in der Chaplin in der Rolle des Diktators mit einer aufblasbaren Weltkugel einen Liebestanz vollführt. Nie zuvor wurde Machtbesessenheit beeindruckender karikiert als in dieser Szene. Zum anderen ist da die kurze Episode, in welcher sowohl Diktator Ade-noid Hynkel (alias Adolf Hitler) als auch Benzino Napoloni (alias Benito Mussolini) beim Frisör sitzen und ihren Stuhl dauernd hinaufschrauben, nur um auf den anderen herunterschauen zu können. Auch hier geht es natürlich um Macht. Jeder feiert mit der Abwertung des anderen seine eigene vorgegaukelte Überlegenheit. «Ich bin gross, denn du bist winzig», lautet die Devise. Diese Haltung, von Chaplin meisterhaft entlarvt, hat sowohl mit Chanukka als auch mit unserem Wochenabschnitt zu tun.
Die historischen Ursprünge von Chanukka scheinen klar zu sein und sind in den zu den Apokryphen gehörenden Büchern Makkabäer I und II nachzulesen. Dort ist der furchtlose Partisanenkampf der Makkabäer gegen die Armeen des Seleukidenkönigs Antiochus Epiphanes beschrieben. Es war eine Revolte sowohl gegen die physische Unterdrückung wie auch gegen die geistig-religiöse Bevormundung und gleichzeitig ein Aufbäumen gegen die Assimilation, der viele Juden durch die fortschreitende Begeisterung für den Hellenismus erlagen. Nach drei Jahren Guerillakrieg eroberten die Makkabäer im Jahre 166 v. d. Z. Jerusalem zurück, befreiten den Tempel von den Spuren des inzwischen eingeführten Götzenkults und weihten ihn wieder als jüdisches Zentrum ein. Der Ursprung von Chanukka scheint also ziemlich klar zu sein. Aber die jüdische Tradition betreffend Chanukka ist nicht so einfach. Die Makkabäerbücher wurden nicht in den heiligen Kanon der Bibel aufgenommen. Überraschenderweise findet sich nicht einmal eine einzige Mischna über Chanukka, und in der Gemara wird Chanukka nur am Rande, fast zufällig, abgehandelt, wobei die Weisen kein Wort über die mutigen Schlachten der Makkabäer, über deren glanzvolle Siege oder die Wiedereinweihung des Tempels verlieren. Vielmehr wird das Ölwunder in den Vordergrund gestellt und als eigentliches Fundament von Chanukka eingeführt. Warum diese Zurückhaltung? Der Grund liegt darin, dass die Rabbiner mit dem Sieg der Hasmonäer eigentlich nie ganz glücklich waren, was vielerlei Gründe hat. Mir scheint, sie hatten vor allem grosse Bedenken, dass die Makkabäer den Erfolg alleine für sich reklamieren würden, dass sie prahlerisch und selbstsüchtig würden und dabei Gott vergessen könnten. Denn nichts ist schwieriger, als im Moment des Erfolgs bescheiden zu bleiben.
Josef ist nicht bescheiden zur Welt gekommen. Von seinem Vater Jakow gegenüber seinen Brüdern bevorzugt, hielt er sich für etwas Besseres. Im Laufe der Jahre entwickelte er sich allerdings zu einem wahren Zaddik. Als ihn Pharao aus dem Gefängnis holen lässt, damit er ihm seine Träume deutet, wehrt Josef die Vorschusslorbeeren ab und erklärt, dass nur Gott Pharaos Probleme lösen könne. Wir wissen nicht, was Pharao mehr beeindruckt: die Massnahmen, die Josef zur Überwindung der prognostizierten Wirtschaftskrise vorschlägt, oder seine Bescheidenheit. Auf alle Fälle preist er ihn mit einem aussergewöhnlichen Begriff: in Josef sei offenbar «ruach elohim» – der Geist Gottes. Dieser Ausdruck kommt nur noch einmal in der gesamten Thora vor, nämlich bei der Schöpfungsgeschichte, wo der Geist Gottes über dem Wasser schwebt. Dort verweist er auf eine Art göttliche Energie, mächtig, kraftvoll und schöpferisch. Josef wird von Pharao als dessen Stellvertreter eingesetzt. De facto herrscht er über Ägypten. Doch er betrachtet sich nicht als mächtig, sondern als ermächtigt, nicht als den Ausgangspunkt von Kraft, sondern Empfänger der Kraft Gottes, die er in Gottes Sinn verwendet.
Macht ist wohl die grösste Herausforderung, der ein Einzelner gegenüberstehen kann. Macht ist aber auch die grösste Herausforderung, der wir neuerdings als Volk gegenüberstehen. Während fast zwei Jahrtausenden erlernten wir die Kunst, ohne Macht zu überleben und die Seele zu schützen. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir in Israel und in der Diaspora eine in der jüdischen Geschichte beispiellose Machtfülle erworben. Die grosse spirituelle Herausforderung besteht nun darin zu lernen, wie wir damit umgehen. Dies hängt auch davon ab, ob wir uns als allmächtig betrachten oder die uns verliehene Kraft als Geschenk verstehen. Die Weisen erkannten in der Arroganz der Makkabäer eine grosse Gefahr und stellten dem Mut und der Verbissenheit der Partisanen das Ölwunder Gottes gegenüber. Josef empfand die Macht, die er unverhofft erhielt, als eine von Gott verliehene Gabe, als Chance, die Welt zu verbessern. Damit vermied er, was dem «grossen Diktator» passierte: Diesem platzte zuerst mit einem grossen Knall die Erdkugel zwischen den Händen. Dann sauste er auf seinem Frisörstuhl mit grossem Karacho hinab.
Michael Goldberger schrieb von 2001 bis 2012 Sidrabetrachtungen für tachles. Erschienen sind diese im Buch «Schwarzes Feuer auf weissem Feuer: Ein Blick zwischen die Zeilen der biblischen Wochenabschnitte», woraus dieser Text stammt.
sidra mikketz
19. Dez 2025
Macht als Herausforderung
Rabbiner Michael Goldberger