Wenn meine Eltern mir den Satz «Dann mach doch einfach, was du willst» sagten – nach heftigen Auseinandersetzungen darüber, ob mir eine bestimmte Sache erlaubt werde oder nicht, dann wusste ich sogleich, dass er mir nicht wirklich freie Wahl liess. Er war vielmehr wütender Schlusspunkt einer schier endlosen Diskussion darüber, ob ich alt genug sei, selber zu entscheiden, was gut für mich ist und was nicht. Doch meine Eltern kannten mich gut genug. Sie waren sich sicher, dass ich mich niemals trauen würde, das zu tun, wofür ich soeben lautstark gekämpft hatte, obschon ich die formale Erlaubnis nunmehr errungen hatte. Als Jugendlicher halfen mir diese Erlebnisse immerhin, die philosophisch schwergewichtige Frage danach, wie sich die Allwissenheit Gottes mit der Willensfreiheit des Menschen vereinbaren liesse, zu lösen. Gott, so vermutete ich, lasse uns Menschen zwar die Wahl, zu tun, was wir wollen, kennt allerdings jeden Einzelnen so gut, dass er weiss, wie wir handeln würden.
Zu Beginn unseres Wochenabschnitts verkündet Mosche die Willensfreiheit des Menschen: «Sieh, ich lege euch heute Segen und Fluch vor. Den Segen, falls ihr auf die Gebote des Ewigen, eures Gottes, die ich euch heute gebiete, hört. Und den Fluch, falls ihr nicht auf die Gebote des Ewigen, eures Gottes, hört, sondern vom Weg abweicht, den ich euch heute gebiete, und anderen Göttern nachfolgt, die ihr früher nicht gekannt habt» (5.B.M. 11:26–28). Hätte der Mensch keinen freien Willen, ergäbe das ganze System von Geboten und Verboten und dem auf geheimnisvolle Weise damit verbundenen Prinzip von Lohn und Strafe keinen Sinn. Gott verlangt, dass wir das Leben wählen (vgl. 30:19). Er muss dies tun, eben weil wir das Privileg und die Fähigkeit besitzen, in jedem Augenblick neu zu entscheiden. Gerade weil die Willensfreiheit als Grundprinzip am Anfang unserer Parascha steht, fällt in der Fortsetzung ein Ausdruck auf, der viele Fragen aufwirft. Im Zusammenhang mit dem Zehnten und freiwilligen Opfergaben erlaubt Gott deren Verzehr ausschliesslich in Jerusalem. Das Verbot, den Zehnten ausserhalb Jerusalems zu geniessen, kommt allerdings in einer merkwürdigen Formulierung daher. Wo wir ein «ich verbiete» oder ein «du darfst nicht» erwarten, äussert sich Gott so: «lo tuchal» («du kannst nicht») (12:17), wobei der Begriff «können» tatsächlich «nicht fähig sein» bedeutet. Wenn wir aber nicht fähig sind, den Zehnten ausserhalb Jerusalems zu verzehren, warum erlässt Gott ein entsprechendes Verbot? Der ganze Sinn eines göttlichen Verbotes besteht doch darin, dass ich etwas nicht tun soll, was ich im Prinzip tun könnte. Dass ich mich entscheide, mich Gottes Willen zu unterwerfen.
Dieses merkwürdige «du kannst nicht» anstelle einer klaren Vorschrift kommt auch an anderen Stellen vor, etwa im Zusammenhang mit dem Verbot, einen nicht jüdischen König einzusetzen (17:15), den Sohn einer ungeliebten zweiten Ehefrau zu benachteiligen (21:16) oder so zu tun, als ginge einen der Verlust des Eigentums eines Nachbarn nichts an (22:3). Gerade hier verwun-dert der Ausdruck «du kannst nicht» besonders. Natürlich kann ich so tun, als würde ich den Esel meines Nachbarn, der sich offenbar verlaufen hat und mir gerade entgegenhoppelt, gar nicht bemerken. Gerade weil die Gefahr besteht, dass ich den Kopf in den Sand stecke, statt zu helfen, befiehlt die Thora, gefundene Objekte dem Eigentümer wieder zurückzugeben.
Ich meine, dass der Ausdruck «du kannst nicht» auf eine Eigenschaft verweist, die dem Menschen ursprünglich eingepflanzt ist, nämlich eine urtümliche Aufrichtigkeit. Die Thora nennt sie «joscher». Mit diesem Ausdruck bezeichnet sie den inneren Willen des Menschen, die Essenz seines Selbst. Immer wieder ruft Gott auf, das zu tun, was «jaschar» ist in den Augen Gottes, alleine in unseremWochenabschnitt dreimal. König Salomon stellt fest, dass der Mensch eigentlich «jaschar» ist (Kohelet 7:29). Gott schuf den Menschen mit einer Tendenz zum Guten, zu Aufrichtigkeit und Menschlichkeit. Weil er aber darüber hinaus auch einen Hang zum Egoismus besitzt (vgl. 1.B.M. 8:21), bedarf es zusätzlich der Gebote und Verbote. Die Wurzeln des Menschen aber sind gut. Auch wenn die Lebensumstände uns oft genug von dieser inneren, schlichten und unschuldigen Moral entfremden, so können wir doch stets auf sie zurückgreifen. Dafür bedarf es keiner Gesetze. Sie ist uns seit je eigen. Die Mizwot dienen dazu, diese natürliche Aufrichtigkeit des Menschen zu erheben und zu vervollkommnen, das Gute in uns zu offenbaren und in die Realität umzusetzen. Wenn es uns gelingt, diese innere Güte mithilfe der Mizwot zu bewahren und zu veredeln, dann können wir gar nicht anders, als Fundgegenstände zurückzugeben und alle Menschen gleich zu behandeln.
Gebote und Verbote zu achten, ist das eine. Sich für den Segen und das Leben zu entscheiden, geht weit darüber hinaus. Es bedeutet, aus dem tiefen Inneren heraus menschlich zu handeln. Darauf verlassen sich Eltern, wenn sie uns auffordern zu tun, was wir wollen. Wir können dann gar nicht anders, als richtig handeln.
Michael Goldberger schrieb von 2001 bis 2012 Sidrabetrachtungen für tachles. Erschienen sind diese im Buch «Schwarzes Feuer auf weissem Feuer: Ein Blick zwischen die Zeilen der biblischen Wochenabschnitte», woraus dieser Text stammt.
Sidra Reeh
22. Aug 2025
Machen, was man muss
Rabbiner Michael Goldberger