Das Ende des Buches Bamidbar behandelt die Fluchtstädte für versehentliche Mörder: «Wenn ihr über den Jordan in das Land Kanaan kommt, sollt ihr Städte verordnen, die euch als Zufluchtsstädte dienen, damit ein Totschläger, der eine Seele aus Versehen erschlägt, dorthin fliehe» (4. B.M. 35: 10–11). Bekanntlich kann ein unwillentlicher Mörder die Stadt nach dem Tode des Hohepriesters wieder verlassen (35:28). Was geschieht danach? Ist der versehentliche Totschläger von jeglichem Ballast befreit? Rambam (1138–1204) bejaht dies: «Ein Totschläger, der nach dem Tode des Hohepriesters in seine Heimat zurückgekehrt ist, steht allen anderen Personen gleich, so dass der Bluträcher, wenn er ihn dann noch tötet, dafür hingerichtet wird, weil die Missetat bereits durch die Verbannung gesühnt war» (Mischne Thora, Hilchot Rozeach 7:13). Und doch räumt er, basierend auf einer Mischna, ein, dass hier Ausnahmen bestehen: «Wenngleich er nun aber seine Sünden abgebüsst hat, so tritt er dann dennoch nicht wieder in seine früheren Ämter ein, sondern er darf seine ganze übrige Lebenszeit hindurch keine weitere Würde mehr bekleiden, weil er einmal einen so bedeutenden Unfall herbeigeführt hatte» (ibid. 7:14).
Interessanterweise dezimiert sich die Konsequenz des unabsichtlichen Totschlags nicht ausschliesslich auf die zukünftige Karriere politischer, sondern auch religiöser Würdenträger. So sagt Rabbi Jochanan im Talmud: «Ein Priester, der einen Menschen erschlagen hat, erhebe seine Hände nicht (zum Priestersegen), denn es heisst: ‹Euere Hände sind voll Blut›» (Berachot 32b). Rabbi Jochanan lernt diese Weisung aus folgendem Vers Jesaias: «Wenn ihr eure Hände ausbreitet, verhülle ich meine Augen vor euch. Wenn ihr auch noch so viel betet, ich höre es nicht; eure Hände sind voller Blut» (Jes. 1:15). Dementsprechend ist es einem Kohen, einem Juden des Priestergeschlechts, untersagt, den Priestersegen auszusprechen, wenn er einst einen Mitmenschen versehentlich getötet hat. Die «blutigen Hände» lassen sich also nicht vollkommen «reinwaschen». In der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, besteht diesbezüglich eine spannende Meinungsverschiedenheit. Rabbi Josef Karo (1488–1575) verfolgt in seinem halachischen Standardwerk «Schulchan Aruch» eine harte Linie: «Ein Kohen, der jemanden getötet, sogar unabsichtlich, soll den Priestersegen nicht begehen, selbst wenn er Reue getan hat» (Orach Chaim 128:35). Rabbi Mosche Isserles (1530–1572), das aschkenasische Pendant des Schulchan Aruch, bemerkt dazu: «Es gibt Meinungen, die sagen, dass wenn der Kohen Reue getan hat, er den Priestersegen durchführen darf.» Isserles begründet seine tolerante Anschauung mit einer prinzipiellen Richtlinie: «Man soll gegenüber den Reuigen nachsichtig sein, um nicht die Türe vor ihnen zu verschliessen.» Es entspreche also dem jüdischen Konzept der «teschuwa», der Umkehr, Kohanim, die ein Vergehen begangen haben, nach begangener Reue wieder im Kreis der Segner aufzunehmen. Denn ein «baal teschuwa», ein Reuiger, gilt im Judentum als quasi neugeborener Mensch! Freilich ist es verständlich, wenn bei einem vorsätzlichen Mörder selbst einer Reue Grenzen gesetzt werden, aber bei einem versehentlichen Totschläger sollte dies genügen, um ihn erneut als segnenden Priester in der Synagoge willkommen zu heissen.
Was steht hinter der strengen Auslegung von Josef Karo? Rabbi Israel Meir Kagan (1838–1933) gibt hierzu eine faszinierende Erklärung: «Auch wenn der Reue nichts im Wege steht, trotzdem kann der Ankläger nicht zum Fürsprecher werden! Denn mit diesen Händen, die den Mitmenschen getötet haben, ist es nicht angebracht, die Hände zum Priestersegen zu erheben, auch wenn er es bereut hat» (Mischna berura 129). Diese Anschauung nimmt den obigen Bibelvers des Propheten Jesaia sehr wörtlich: Jene Hände, die «voll Blut» sind, können nicht einfach über das Volk Israel beim Priestersegen ausgestreckt werden. Die «Ankläger» können nicht so einfach zum «Fürsprecher» umfunktioniert werden. Gerade weil der Priestersegen visuell-zeremoniell die segnenden Hände der Kohanim in den Vordergrund stellt, müssten diese in den Augen der Gemeinschaft besonders «rein» sein.
Es besteht also eine rabbinische Meinungsverschiedenheit, ob ein Kohen nach einem unabsichtlichen Totschlag selbst nach erfolgter Reue den Priestersegen durchführen kann. Gerade im gegenwärtigen Krieg in Israel kommt diese halachische Problematik – man muss sagen: leider – in die Gefilde der praktischen Relevanz: Wie steht es bei einem israelischen Soldaten, der im Laufe seiner Militärzeit willentlich feindliche Kämpfer oder unwillentlich Zivilisten getötet hat? Darf ein Soldat der IDF, der Kohen ist, danach zum «Duchenen» («Priestersegen») antreten? Für Rabbi Ovadia Yossef (1920–2013) besteht kein Zweifel: «Bezüglich Kohanim, die IDF-Soldaten sind und unser Heiliges Land beschützen, besteht kein Zweifel daran, dass sie eine grosse Mizwa erfüllen, indem sie gegen die feindlichen Armeen vorgehen, die kommen, um Verwüstung anzurichten, um zu zerstören und Männer, Frauen und Kinder zu töten. (…) In diesem Verteidigungskrieg, in dem sie ihr Leben riskieren, um den Feind zu bekämpfen und das Leben Israels zu retten, wäre es angemessener, ihnen zu sagen: ‹Mögen ihre Hände gestärkt und ihre Kraft gefestigt werden.› Es besteht kein Zweifel daran, dass sie würdig sind, den Priestersegen durchzuführen! Mögen sie vom Allerhöchsten gesegnet werden, damit durch sie erfüllt werde (4. B.M. 6:27): ‹Und sie werden meinen Namen auf die Kinder Israels legen, und ich werde sie segnen›» (Jechawe Daat 2:14).
Gerade in einer Zeit, in welcher zahlreiche Israel-Verleumder die «blutigen Hände» israelischer Soldaten hervorzuheben versuchen, ist es wichtig, die unvergleichlich hohen moralischen Standards der IDF-Soldaten und deren «saubere Hände», widerhallend in dieser halachischen Diskussion, uns vor Augen zu führen.
sidra Mattot/Mass'ej
25. Jul 2025
Kann ein IDF-Soldat «duchenen»?
Emanuel Cohn