Der Krieg, in dem sich Israel momentan befindet, ist nicht der erste Krieg des jüdischen Volkes. In der langen jüdischen Geschichte ist es immer wieder zu Kriegen gekommen. Und dieser Krieg wird wahrscheinlich, leider, auch nicht der letzte sein.
Da die Thora sehr genau weiss, dass Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen Teil des menschlichen Lebens sind, hat sie eine ganze Serie von Gesetzen erlassen, die das Verhalten des Menschen im Krieg regeln sollen. Für das Verhalten des Menschen im Krieg sind spezielle Vorschriften notwendig, weil der Krieg eine ausserordentliche Situation ist. Im Krieg ist der Mensch in dauernder Gefahr, oft sogar in Lebensgefahr. Im Krieg gelten auch andere Regeln als im friedlichen Leben. Während das Verletzen oder gar Töten eines anderen Menschen im Friedenszustand strengstens verboten ist und mit höchsten Strafen geahndet wird, gehört das Töten oder Verletzen des Feindes im Krieg zu den wichtigsten Absichten und Zielen.
Bei Soldaten, die im Krieg sind – vor allem, wenn sie, wie jetzt, längere Zeit dienen müssen – hat der Krieg schwerwiegende Auswirkungen. Er verursacht unter anderem eine Verrohung und Verhärtung der Empfindung und des Verhaltens der Soldaten. Wenn der Mensch lange im Krieg ist, ist er nicht mehr derselbe Mensch.
Der Beginn unserer Parascha spricht von einer Situation, in welcher sich das jüdische Volk im Krieg befindet. Die Parascha beginnt mit den Worten «ki tetze lamilchama al ojwecha», «wenn du gegen deinen Feind in den Krieg ziehst» (5. B. M. 21, 10). Diese Worte geben ihr auch ihren Namen.
Die Thora schreibt hier sehr genau vor, wie vorzugehen ist, wenn ein Soldat unter den gefangengenommenen Frauen eine schöne Frau sieht, sie begehrt und sich zur Frau nehmen will. Es muss dazu sofort erwähnt und sehr betont werden, dass es einem jüdischen Mann im Friedenszustand verboten ist, sich eine Frau gegen ihren Willen zur Frau zu nehmen. Zudem ist es ihm strengstens untersagt, sich mit einer nicht jüdischen Frau zu verheiraten. Es gehört zu den wichtigsten Grundregeln des Judentums, dass sich jüdische Männer nur mit jüdischen Frauen verheiraten dürfen.
Hier aber entdecken wir zu unserem grossen Erstaunen, dass die Thora es in dieser spezifischen Situation einem jüdischen Soldaten erlaubt, sich mit einer gefangengenommenen, nicht jüdischen Frau zu verheiraten.
Der Grund dafür ist darin zu finden, dass die Thora den Menschen sehr genau kennt. Sie ist sich voll bewusst, dass die Vorschriften, die normalerweise gelten, hier nicht angebracht sind, nicht angewendet werden können. Sie entsprechen nicht der Realität der Situation. Die oben erwähnte Verrohung der Gefühle und des Verhaltens des Soldaten bewirken, dass ihm gegenüber nicht dieselben hohen moralischen Ansprüche erhoben werden können. Deshalb erlaubt die Thora es einem Soldaten hier, sich mit einer solchen Frau zu verheiraten. Weil im Krieg, wie erwähnt, andere Regeln gelten als im Friedenszustand.
Aber es ist ein grosses Aber anzufügen: Obwohl die Thora sich bewusst ist, dass im Krieg nicht dieselben Regeln angewendet werden können, oder gerade deswegen, erlässt sie eine Serie von Vorschriften, die hier einzuhalten sind. Trotz der Verrohung und Verhärtung des Soldaten wird von ihm erwartet und gefordert, dass er bereit und fähig ist, sich auch in dieser Situation an Gesetze zu halten, die diese gefangengenommene, nicht jüdische Frau schützen. Ganz besonders und ganz spezifisch wird ihm verboten, diese Frau zu unterdrücken oder auszunützen (ibid. Vers 14). Auch im Krieg, sagt die Thora hier ganz klar, wird von uns Menschen erwartet und wird uns geboten, uns an moralische Grundregeln zu halten. Auch im Krieg befiehlt uns die Thora, uns daran zu erinnern und vor Augen zu halten, dass nicht alle ethischen Vorschriften aufgehoben sind. Auch im Krieg, schreibt uns die Thora vor, haben wir uns anderen Menschen gegenüber wie Menschen zu verhalten – wie jüdische Menschen mit moralischem Gewissen und ethischen Grundregeln.
Dieses grosse Aber gilt auch für den jetzigen Krieg in Gaza.
Sidra Ki Tetze
05. Sep 2025
Ja, aber
David Bollag