Talmud heute 09. Mai 2025

Herzl und der Monat Ijar

Wir befinden uns im jüdischen Monat Ijar, der dieses Jahr mehr oder weniger mit dem gregorianischen Monat Mai zusammenfällt. Seit jeher gilt dieser Frühlingsmonat als Metapher, wie nach dem langen Winter die Natur sowie die menschlichen Gefühle zu neuem Leben erwachen. Keiner formulierte es so schön wie Heinrich Heine: «Im wunderschönen Monat Mai, als alle Knospen sprangen, da ist in meinem Herzen die Liebe aufgegangen.» Auch die Weisen waren sich der «sinneserweckenden» Qualitäten des Monats Ijar bewusst und etablierten darin sogar den Brauch, am Schabbatnachmittag bis zum Herbst die «Sprüche der Väter» zu studieren, denn «von nun an beginnt die Zeit wärmer zu werden, körperliche Begierden entstehen (…)» (Midrasch Schmuel). Deshalb haben sie es sich von diesem Monat an zur Gewohnheit gemacht, jeden Schabbat das Traktat Awot zu studieren, der voller Maximen ist und einen Menschen dazu inspiriert, jede gute Eigenschaft anzustreben und den guten stärker den bösen Trieb zu pflegen.

In der jüdischen Geschichte jedoch erweckte der Monat Ijar alles andere als romantische Assoziationen. Es ist der einzige Monat, der vollkommen in die 50-tägige Omer-Periode zwischen Pessach und Schawuot, dem Wochenfest, fällt. Diese Zeit war seit jeher von einem schlechten Omen begleitet: Gemäss dem Talmud (Jewamot 62b) starben in dieser Periode 24 000 Schüler von Rabbi Akiva, wahrscheinlich in den Jahren des Bar-Kochba-Aufstandes (132–135). Im Mittelalter kamen die jüdischen Gemeinden in Deutschland hinzu, welche im Rahmen der ersten Kreuzzüge im Jahre 1096 barbarischen Antisemiten zum Opfer fielen. Gemäss dem Historiker Heinrich Graetz wurden in jenem Frühling in der Rheingegend 12 000 Juden vom christlichen Pöbel ermordet. Im Jahre 1943 reihte sich die Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Ghetto in die Katastrophen der «Omer»-Zeit ein. Es überrascht also nicht, dass diese Zeit in der jüdischen Tradition als Trauerperiode gilt, während welcher man keine Hochzeiten durchführt und sich keinem Haarschnitt unterzieht.

In der jüngsten jüdischen Geschichte jedoch erfreute sich der traurige Monat Ijar einer unverhofften freudigen Kehrtwende. Am 5. Ijar wurde vor 77 Jahren der Staat Israel ins Leben gerufen, und 19 Jahre später wurde am 28. Ijar im Laufe des Sechstagekrieges Jerusalem befreit und vereint. Diese beiden historischen Ereignisse werden im Namen des Monats Ijar selbst angedeutet, stehen doch die ersten beiden Buchstaben («alef» und «jod») für das Kürzel «Erez Jisrael» (Land Israel), während der dritte und vierte Buchstabe («jod» und «reisch») die Abkürzung von «Jeruschalajim» («Jerusalem») bedeutet. Im Jahre 2004 verabschiedete die Knesset ein Gesetz, welches vorsieht, am 10. Ijar, dem Geburtstag Herzls, einen «Herzl-Tag» auszurufen, um «die Vision, das Erbe und die Arbeit von Herzl an die nächsten Generationen weiterzugeben und sein Andenken zu bewahren». Dazu gehören natürlich eine Zeremonie, das Vermitteln der Lehre Herzls in Schulen und Armeebasen sowie eine kostenfreier Zugang zum Herzl-Museum in Jerusalem.

An dieser Stelle wollen wir die atemberaubende Beschreibung von Herzls Begräbnis in Wien im Sommer 1904 aus Stefan Zweigs Buch «Die Welt von Gestern» zitieren: «Ein sonderbarer Tag war es, ein Tag im Juli, unvergesslich jedem, der ihn miterlebte. Denn plötzlich kamen auf allen Bahnhöfen der Stadt, mit jedem Zug bei Tag und Nacht aus allen Reichen und Ländern Menschen gefahren, westliche, östliche, russische, türkische Juden, aus allen Provinzen und kleinen Städten stürmten sie plötzlich herbei, den Schreck der Nachricht noch im Gesicht; niemals spürte man deutlicher, was früher das Gestreite und Gerede unsichtbar gemacht, dass es der Führer einer grossen Bewegung war, der hier zu Grabe getragen wurde. Es war ein endloser Zug. Mit einem Mal merkte Wien, dass hier nicht nur ein Schriftsteller oder mittlerer Dichter gestorben war, sondern einer jener Gestalter von Ideen, wie sie in einem Land, in einem Volk nur in ungeheuren Intervallen sich sieghaft erheben. Am Friedhof entstand ein Tumult; zu viele strömten plötzlich zu seinem Sarge, weinend, heulend, schreiend in einer wild explodierenden Verzweiflung, es wurde ein Toben, ein Wüten fast; alle Ordnung war zerbrochen durch eine Art elementarer und ekstatischer Trauer, wie ich sie niemals vor dem und nachher bei einem Begräbnis gesehen. Und an diesem ungeheuren, aus der Tiefe eines ganzen Millionenvolkes stosshaft aufstürmenden Schmerz konnte ich zum ersten Mal vermessen, wieviel Leidenschaft und Hoffnung dieser einzelne und einsame Mensch durch die Gewalt seines Gedankens in die Welt geworfen.»

Es ist unfassbar, wie viel Herzl in seinem kurzen Leben von nur 44 Jahren zu bewegen vermochte. Am 3. September 1897 schrieb er nach dem ersten Zionistenkongress in sein Tagebuch: «In Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig wird es jeder einsehen.» Herzl muss ein Prophet gewesen sein, denn genau fünfzig Jahre danach wurde die Uno-Resolution zur Teilung Palästinas ins Leben gerufen und somit der jüdische Staat eingeläutet.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass der «Herzl-Tag» in den Monat Ijar fällt. Dieser steht, wie oben ausgeführt, einerseits für die Wunden in der jüdischen Geschichte, aber auch für deren Heilung. So gilt der Ausdruck Ijar als hebräische Abkürzung des Bibelverses «Ich bin der Gott, dein Heiler»

(2. B. M. 15:26). Vielleicht lassen sich die «fünfzig Jahre», die Herzl von seiner Vision bis zur Gründung des Judenstaates vorsah, mit den fünfzig Tagen der «Omer»-Zeit zwischen der physischen Befreiung am Pessach und der geistigen Berufung am Schawuot in Verbindung bringen. Es sind die fünfzig Stufen der «Omer»-Zeit, vom Potential zur Erfüllung, von den Niederungen der jüdischen Geschichte bis in ihre Höhen, wie wir sie in unserer Generation erleben durften.

Emanuel Cohn unterrichtet Film und Talmud und lebt in Jerusalem.

Emanuel Cohn