Sidra Ki Tawo 12. Sep 2025

Erzählung und Verantwortung

In einer seiner Wochenabschnittserklärungen zur Sidra Ki Tawo hat Rabbi Lord Jonathan Sacks sich mit der Gabe von echten Führungspersönlichkeiten beschäftigt, kollektive Narrative zu erzählen und zu gestalten. Mosche gelangt – nachdem er im 5. B. M. die Geschichte der Errettung Israels aus Ägypten, der Offenbarung am Sinai und der Ereignisse in der Wüste erzählt hat – in der Sidra Ki Tawo zur Mizwa für kommende Generationen, die im Land leben werden, die Erstlingsfrüchte an Schawuot in das Heiligtum zu bringen und zu rezitieren: «Ein verlorener Aramäer war mein Vater, und er zog hinab nach Ägypten und blieb dort als Fremder mit wenigen Leuten, und dort wurde er zu einer grossen, starken und zahlreichen Nation. Die Ägypter aber behandelten uns schlecht und unterdrückten uns und auferlegten uns harte Arbeit. Da schrien wir zum Ewigen, dem Gott unserer Vorfahren, und der Ewige hörte unser Schreien und sah unsere Unterdrückung, unsere Mühsal und unsere Bedrängnis. Und der Ewige führte uns heraus aus Ägypten mit starker Hand und ausgestrecktem Arm, mit grossen und furchterregenden Taten, mit Zeichen und Wundern, und er brachte uns an diesen Ort und gab uns dieses Land, ein Land, in dem Milch und Honig fliessen» (26,5–9).

Dass hier nicht ein einzelner, herausgehobener Herrscher, Priester oder Prophet, sondern dass jeder Einzelne die Geschichte des Volkes in dieser Kurzfassung erzählt, ist für Rabbi Sacks die grosse Innovation, die die Thora und damit das Judentum in die Geschichte eingebracht hat. Er vergleicht Israel als Volk, das durch einen Bund (mit Gott, aber letztlich auch untereinander) statt durch autoritäre oligarchische oder monarchische Strukturen als Gemeinschaft zusammengehalten wird, mit den ebenfalls durch einen Bund zusammengehaltenen Bevölkerung der USA. Anders als Grossbritannien, das seit jeher eine Klassengesellschaft gewesen sei, hätten sich die USA neu erfinden und durch eine gemeinsame Erzählung von Freiheitserringung und -bewahrung erhalten müssen.

Rabbi Sacks hätte, so denkt man sich als Schweizer, statt den USA auch die eidgenössische «Willensnation» nennen können – doch just dass er die USA nennt, reisst heute, rund fünf Jahre nach seinem Ableben, Fragen auf, die sich letztlich auch für die jüdische Gemeinschaft stellen.

Gibt es diese gemeinsame Geschichte noch? Eine Frage, die sich tatsächlich für die USA unserer Zeit, die innerlich zerrissen sind, ähnlich stellt wie für die jüdische Gemeinschaft, durch die tiefe, fast existenzielle Risse gehen – politische, weltanschauliche, religiöse. Wo Verschwörungstheorien und Geschichtsklitterungen für viele Menschen den Vorrang haben vor den komplexen Erzählungen, die der Versuch generiert, Gegenwart und Vergangenheit möglichst genau zu analysieren, ist, wie das Beispiel von Rabbi Sacks besonders deutlich macht, die Identität, ja der Bestand einer Gemeinschaft in ernsthafter und nachhaltiger Gefahr.

Mosche selbst sah solche Situationen voraus, ein beträchtlicher Teil der Sidra beschäftigt sich damit, dass Israel im Land Gott untreu werden könnte (was auch bedeutet: eine Gesellschaft zu werden, in der Recht und Gerechtigkeit nach anderen als nach objektiven, von Gott autorisierten Massstäben gemessen werden). In der Sidra ist eine lange Passage der «tochacha» (deutsch: «Zurechtweisung») gewidmet, in der die möglichen, katastrophalen Folgen solchen Abweichens geschildert werden. Wie die allermeisten Prophetenworte haben auch diese, als Israel im Land lebte, keine besondere Wirkung erzielt. Doch gerade der Umstand, dass sie jährlich kurz vor Rosch Haschana vorgelesen werden, wenn die jüdische Welt ohnehin schon alerter und hellhöriger ist als im Rest des Jahres, dass ihre Drastik uns zuweilen erstarren lässt, dass die jüdische Geschichte die dort angedrohten Dinge enthalten und sogar teilweise überboten hat, lässt diese Prophetie doch nicht ganz ins Leere laufen.

Denn die Botschaft ist letztlich eine ganz einfache, und sie trifft uns, wenn wir das erkennen, bis ins Mark: Es liegt an uns, wie es weitergeht, jede und jeder Einzelne trägt dafür Verantwortung. Natürlich gibt es Mächte, die ihre Fäden ziehen, aber nicht sie allein bestimmen, was läuft, im Grunde sind wir es, vor Gott und auch im täglichen Verkehr untereinander. Und vielleicht ist dies, mehr noch als alle narrativen Elemente der Thora, die Geschichte, die sie erzählt: Die Geschichte von der Souveränität des Individuums, das sich am Ende hinter nichts verstecken kann als hinter der Verantwortung, die es selber trägt.

Maimonides schreibt an einer Stelle, jeder Mensch solle sich als jemanden betrachten, der genau in der Mitte zwischen Gut und Böse stehe. Sein nächster Schritt kann über sein eigenes Schicksal entscheiden, und wenn die Welt insgesamt genau in dieser Mitte steht, über das Schicksal der Welt insgesamt. Würden wir, von solcher Verantwortungsethik beseelt, immer dieselben Meinungen vertreten und dieselben Taten vollziehen, wie wir es für gewöhnlich tun?

Jede und jeder stelle sich diese Frage selbst.

Alfred Bodenheimer