Israel ist nach zwei Jahren Krieg mit über 2000 Toten, vielen Tausenden körperlich und seelisch Verwundeten, wirtschaftlich ausgelaugt, einem international beispiellosen Ansehensverlust und dem weltweit anschwellenden Antisemitismus ein anderes Israel. Und doch: Die Regierung blieb die alte.
Immer noch weiss sie nicht, wie «der Tag nach dem Krieg» gestaltet werden soll. Sie sagt nur, wie nicht. Sie zieht es vor, augenrollend nach Einheit im Volk zu rufen. Doch der versprochene Untersuchungsausschuss, der von Koalitionsabgeordneten Angehörigen von Gefallenen noch in der Woche vor Beginn des Waffenstillstands feierlich versprochen wurde, mutierte über Nacht wieder zum Tabu-Thema. Stattdessen kündigte der Radiosender Kan eine andere Untersuchung an: Sie soll den Zusammenhang des Kriegsausbruchs mit dem Verhalten der israelischen Justiz wie auch den Massenprotesten gegen die geplante Justizreform der Regierung vor dem 7. Oktober 2023 durchforschen. Soll heissen: Israels Wahlkampf wurde unfeierlich eröffnet.
Soweit zur Einheit zwischen Regierungskoalition und Opposition. Doch auch die Einheit innerhalb der Koalition steht unter Dauerstress: Avi Maos von der ultrarechten Koalitionspartei Noam reichte letzten Dienstag eine Gesetzesinitiative zur Annexion des Westjordanlandes ein. Ohne Aussichten angenommen zu werden. Doch bringt sie seine rechten Koalitionsfreunde in Verlegenheit. Sie müssen gegen den Gesetzesvorschlag stimmen, obwohl sie mit ihm ideologisch voll und ganz auf einer Linie sind. Ihr Problem: Washington ist gegen die Annexion und in dieser Woche putzen die Nahostunterhändler Steve Witkoff und Jared Kushner wie auch Aussenminister Marco Rubio die Klinken zur Premierresidenz in Jerusalem. Maos zeigt sich darüber echauffiert: «Wir sind doch kein Vasall der USA!»
So kommt die Provokation von ganz aussen rechts ungelegen. Für Avi Maos aber nicht. Im nächsten Wahlkampf geht es vor allem um Rechte gegen Rechte. Fast alle Koalitionsparteien müssen mit Mandatsverlusten rechnen. Nur die extremste Rechte hat Aussichten auf Mandatsgewinne. Auch wenn sie durch Neuwahlen ihre Ministerposten verlieren.
Netanyahus Versuche, im Wahlkampf das Datum 7/10 in Vergessenheit geraten zu lassen, muten schon verzweifelt an. Begann der Krieg 2023 als «Eiserne Schwerter» und setzte sich im Volksmund als «Krieg 7. Oktober» durch, heisst er jetzt laut Regierungebeschluss offiziell «Wiederauferstehungskrieg». Das voll ausgesprochene Datum erinnert zu sehr an den Tag des Versagens. In Wiederauferstehung hingegen klingt die Zukunft an. Israels Volksmund lässt sich aber nicht gerne das Maul verbieten. Es gab schon vergebliche Versuche, den Unabhängigkeitskrieg 1948 als Wiederauferstehung zu bezeichnen. Den ersten Libanon-Krieg kennen nur noch offizielle Dokumente als «Frieden für Galiläa».
Ist der Krieg, wie immer er heissen mag, überhaupt beendet? Ausgerechnet die Regierung, die ihren Wahlkampfkrieg nach innen bereits schwungvoll in Angriff genommen hat, richtet sich im Krieg nach aussen bereitwillig defensiv nach den Vorgaben von aussen. Washington hat beschlossen, den Waffenstillstand durchzuziehen. Auch nach mehreren Schusswechseln letzte Woche und zwei getöteten israelischen Soldaten. Donald Trump polterte zwar: «Legt die Hamas nicht die Waffen nieder, wird sie plattgemacht.» Doch vor Ort gilt die US-Richtlinie: «Kleinere Zwischenfälle gefährden den Waffenstillstand nicht.» Was klein ist, bestimmt Washington. Was gross ist, die Hamas.
Die Überführung der sterblichen Überreste von Geiseln kommt nur stockend voran. In Tunneln feststeckende Hamas-Bewaffnete, angeblich ohne Kontakt zu ihrer Führung, schiessen auch im Waffenstillstand weiter. Israels Armee hat die Gelbe Linie, die ihre Kontrollzone über den halben Gazastreifen eingrenzt, bislang nur notdürftig abstecken können. Immer wieder verirren sich Zivilisten in das Gebiet. Die Lage bleibt explosiv. Waffenruhe ist kein Frieden.
Doch die Regierung rüstet zum Wahlkampf. Die Minister diskutieren am Kabinettstisch nicht die Optionen, die jetzt zur Entscheidung anstehen: Besetzung, die zur Besatzung mit Militärherrschaft werden kann? Oder ein Abnutzungskrieg mit ständigen «kleineren Zwischenfällen», der Israels Armee nur kurzfristig eine «Nicht-ganz-Ruhepause» verschafft, die von der Hamas aber als «Sieg» vereinnahmt werden kann? Eine Technokraten-Verwaltung im Gazastreifen, deren Zusammensetzung die Hamas, zumindest hinter den Kulissen, mitentscheidet? Und mit einem Waffenverzicht der Hamas, der nur teilweise durchgesetzt und kontrolliert werden kann? Beaufsichtigt von einer internationalen Kontrolltruppe, an deren Zusammensetzung Israel nur ein beschränktes Mitspracherecht hat? Sah es zunächst so aus, dass die Anrainerstaaten ihre Soldaten nur zögernd in ein Gebiet schicken würden, in dem Hamas-Kämpfer weiter ihre Waffen griffbereit halten, drängen jetzt die Ägypter auf einen baldigen Einmarsch. Auch die Türkei zeigt grosses Interesse. Sogar 200 US-Marines sollen schon bereit stehen. Es geht um mindestens 50 Milliarden an Aufbaugeldern für Gaza, um die Ägypten und die Türkei konkurrieren. Es ist ein von Donald Trump ausgerufenes Kriegsende, das vor Ort mehr einem brüchigen Waffenstillstand ähnelt. Da stellt sich die Frage, sind die zu erwartenden Milliarden für Gaza? Oder für die Baubranchen der Anrainerstaaten?
Auch Israels Wirtschaft kann profitieren, sobald der Waffenstillstand im Gazastreifen sich in ein regionales Bündnis ausweitet und mit einer Normalisierung der diplomatischen Beziehungen mit den Ölstaaten endet. Als die Handelsbeziehungen zu den arabischen Nachbarn noch versteckt im Untergrund abliefen, beliefen sie sich auf einen Wert von 300 Millionen Dollar. Laufen sie offiziell und ohne Einschränkungen, könnten sie leicht um das Zehnfache steigen. Doch wie so vieles andere, bleibt auch dieser Bereich der israelischen Privatinitiative überlassen.
Die To-do-Liste dieser Regierung aber schweift in ganz andere Richtungen: Wie kündigen wir der Generalstaatsanwältin? Wie schaffen wir uns weitere unbequeme Amtsträger vom Hals? Der Geheimdienstchef und der Vorsitzende des nationalen Sicherheitsrats waren bislang nur der Anfang. Wie entmachten wir die einzige Institution im Lande, die in einem Staat ohne Verfassung und zweitem Haus ein ungehemmtes Parlament bremsen kann, das Oberste Gericht? Wie ernennen wir uns regierungskompatible Richter und andere genehmere Amtsträger? Wie verhindern wir einen staatlichen Untersuchungsausschuss, der unser beispielloses Versagen am 7. Oktober und auch noch danach durchleuchtet? Wie schaffen wir uns eine Polizei, die eine in der Öffentlichkeit aufmüpfige Opposition zusammenprügelt? Wie befreien wir junge und streng fromme Wähler selbst in Kriegszeiten von der Wehrpflicht?
All das mit dem vorrangigen Ziel: Wie können wir den Wunsch des US-Präsidenten erfüllen, der in der Knesset zur Begnadigung des wegen Korruption angeklagten Netanyahu aufrief? Netanyahus Anhänger in der Knesset formulierten jetzt gemeinsam ein ellenlanges Schreiben, das Staatspräsident Jizchak Herzog zu einer solchen Begnadigung auffordert. Der ist keineswegs abgeneigt, könnte eine Begnadigung doch Israels Politik auf das Wesentliche zurücklenken: Auf Israels Existenz statt allein auf die Interessen der Regierung und des Mannes an ihrer Spitze.
Doch wäre da ein kleiner Haken: Das Gesetz ermöglicht eine Begnadigung durch den Präsidenten nur, wenn der Betroffene um Begnadigung bittet. Netanyahu schweigt zum Thema. Nathan Eschel, sein alter Vertrauter ohne offizielles Amt, das er wegen Vorwürfe sexueller Belästigung den Dienst quittieren musste, weiss warum: «Der Premier wird niemals um Begnadigung bitten, wäre das doch ein Schuldeingeständnis.»
Norbert Jessen ist Journalist und lebt im Süden Israels.
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24. Okt 2025
Ermüdete Israeli, reaktionäre Politik
Norbert Jessen