Rabbiner Michael Goldberger s. a. 24. Okt 2025

Ein närrischer Hirte

Hundertzwanzig Jahre brauchte Noach, um die dreistöckige Arche in der Grösse eines mittleren Passagierschiffes zu bauen, in welcher er und seine Familie vor der Sintflut gerettet werden würden. 120 Jahre wurde Noach nicht müde, den Menschen zu erklären, dass Gott die Welt ertränken würde, sollten sie sich nicht bessern. Sie liessen sich jedoch nicht beeindrucken. Die Bedrohung war wohl nicht konkret genug. Es war kein Wasser weit und breit zu sehen. Der unvergessliche Mani Matter meint in seiner Ballade «Noa»: «Und me begrifft das d’Lüüt hei gseit däm Maa däm spinnts.» Dieses Schicksal ereilt so manchen Propheten. Die Leute halten ihn für einen Spinner. In unserem Fall überlebt der Spinner, die Spötter hingegen gehen unter. Über ein Jahr lang bleibt Noach mit seiner Frau, seinen drei Söhnen und Schwiegertöchtern sowie den Tieren in der Arche, bevor sie auf Geheiss Gottes das Schiff wieder verlassen. Sogleich baut Noach einen Altar und bringt Tiere als Brandopfer dar. Gott nimmt das Opfer an und verspricht, die Menschheit niemals mehr zu vernichten. Noach und seine Nachkommen werden gesegnet und beauftragt, die Erde wieder zu bevölkern (vgl. 1. B. M. 8:15–9:1).

Das Opfer, welches Noach darbrachte, hatte offenbar die Funktion eines Gebetes und wurde von Gott wohlgefällig aufgenommen. Der Sohar allerdings kritisiert Noach aufs Schärfste, indem er die Bibelstelle völlig anders interpretiert (Sohar Chadasch zu Noach). Nachdem Noach das Ausmass der Katastrophe festgestellt hatte, soll er in Tränen ausgebrochen sein und gesprochen haben: «Gott, Du wirst doch ‹Barmherziger› genannt. Du hättest mit Deinen Geschöpfen Mitleid haben müssen.» Zornig soll Gott erwidert haben: «Du närrischer Hirte. Jetzt kommst du mir damit? Warum hast du dich nicht eingesetzt, als du gehört hast, dass ich die Welt zerstören und dich retten würde? Ich habe mir Zeit gelassen mit der Sintflut, damit du für die Menschen um Erbarmen flehst. Doch als du vernommen hast, dass du gerettet würdest, kam es dir nicht mehr in den Sinn, für die Welt um Rettung zu bitten.» Als Noach dies sah, baute er einen Altar und brachte ein Opfer dar.

Im Gegensatz zu Noach setzten sich Avraham und Mosche furchtlos für andere ein und werden deswegen «treue Hirten» und «wahre Gerechte» genannt. Dies entspricht natürlich dem jüdischen Ideal. Gerecht ist, wer für andere betet. Fromm ist, wer durch seine Taten danach trachtet, die ganze Generation zu beschützen (vgl. Messilat Jescharim Kapitel 19). Trotzdem scheint die Kritik an Noach allzu hart. Wer weiss denn, ob er überhaupt die Fähigkeit dazu hatte, ein Hirte zu sein? Wer weiss, ob er nicht nach bestem Wissen und Gewissen versuchte, die Menschen von ihrem bösen Tun abzuhalten, sie ihm aber kein Gehör schenkten?

Ich meine, dass der Fokus der Kritik des Sohars ein anderer ist. Er wirft Noach vor, dass er sich dadurch blenden liess, dass er selbst ja für sich und die Seinen einen sicheren Hafen in Form der Arche gefunden hatte. Noach glaubte, er könne sich retten, während die anderen untergehen. Es ist wohl ein menschlicher Instinkt, der uns glau-ben lässt, wir könnten uns auf Kosten anderer retten. Vielleicht meint Gott diesen Trieb des Menschen, der schlecht von Jugend an ist (vgl. 1.B.M. 8:21). Wütet in einer Stadt die Pest, kann man doch an einem entfernten Ort Zuflucht finden. Verlieren die anderen, kann ich doch gewinnen. Selbst Noach, der von der Thora «Gerechter» genannt wird, erlag dieser Täuschung. In Wahrheit aber funktioniert die Welt nicht so. Kurzfristig können wir Profit schlagen aus dem Verlust anderer, können hoch hinaus, wenn andere untendurch müssen. Die Welt ist jedoch viel zu sehr vernetzt, als dass wir es uns leisten können, uns auf Dauer zu isolieren. Letztlich kann es mir nur gut gehen, wenn es auch dem Nächsten gut geht.

Nicht umsonst wird unsere Parascha jedes Jahr kurz nach Sukkot gelesen. Sukkot ist ein universeller Feiertag. Wir bitten um Regen, der nicht nur für uns, sondern für alle rund herum ein Segen wäre. Wir opfern 70 Stiere entsprechend der 70 Völker, für die wir gleichermassen beten. Und wir wohnen in einer Sukka, deren Dach offen ist und gerade dadurch Sicherheit bietet. Wir sehnen uns nach einer «sukkat schalom». Bisweilen benötigen wir hohe Mauern und Zäune. Wahren Frieden können wir jedoch nur zusammen erreichen. Alles andere wäre närrisch.

Michael Goldberger schrieb von 2001 bis 2012 Sidrabetrachtungen für tachles. Erschienen sind diese im Buch «Schwarzes Feuer auf weissem Feuer: Ein Blick zwischen die Zeilen der biblischen Wochenabschnitte», woraus dieser Text stammt.
 

Rabbiner Michael Goldberger