standpunkt 25. Jul 2025

Ein jüdischer Sommer?

Ein jüdischer Sommer? Sieben Wochen zählt man weg, drei Wochen weint man weg, vier Wochen bläst man weg. Auf dem Höhepunkt des Frühlings, wenn der Rest des Volkes das schöne Erwachen der Natur, die Wärme der Sonne und den Duft der Blumen geniesst, geht das Pessachfest zu Ende, und die sieben Wochen des Omerzählens mit ihrem Kummer und ihrer Trauer beginnen. Morris Rosenfeld beschreibt in seinem Gedicht «Der jüdische Mai» den Juden in dieser Zeit: «Sagt mir, kennt Ihr jenen Kranken? / Frühling ist's, es blüht und sprüht, / Doch die traurigsten Gedanken/Stürmen wild durch sein Gemüt. / Wer das ist, ihr wisst es gut: / Unser Alter, unser Jud' …»

Einen Tag lang darf sich dieser Alte freuen, sich die Haare schneiden und heiraten (eine zweifelhafte Freude), dann wird er bis Schawuot wieder in die Traurigkeit des Zählens zurückgeworfen. Schawuot und einige Wochen danach bieten eine kleine Atempause, und dann, gleich zu Beginn des Sommers, kommt die Zeit von «ben hamezarim». Dieser Ausdruck ist fast nicht zu übersetzen, vielleicht «zwischen den Bedrängten», hier in Zürich vielleicht eher «in der Enge». Es ist, als wäre der Jude das Negativbild der Sonne: Je länger sie steht, je wärmer und näher sie ist, desto kurzatmiger, kälter und distanzierter ist der Jude.

Drei Wochen lang, vom 7. Tamus bis zum 9. Av, muss man jeden Tag ein bisschen mehr trauern, bis zum Höhepunkt Tischa Beaw, dem vielleicht traurigsten Tag der jüdischen Geschichte (da gibt es viel Konkurrenz), an dem beide Tempel zerstört wurden. Und dann, als ob das noch nicht genug wäre, beginnt die Zeit der «jamim noraim» («ehrfurchterweckende Tage»), in der man für all seine Sünden büssen muss, denn der schreckliche Monat Elul lauert schon um die Ecke. Selbst die kleine Freude am Ende des Sommers, Simchat Thora («die Freude der Thora»), wurde in den letzten Jahren durch den Trauertag am 7. Oktober ersetzt. Wie der Talmud sagt: «Der Spätsommer ist wesentlich härter als der Sommer selbst» (Joma, 29).

Die Hitze, die unerträgliche Hitze, der beste Freund des Krieges, wurde noch nicht erwähnt. Ja, Kriege lieben die Sommerhitze. Im Sommer lässt es sich leichter kämpfen, leichter die Welt in Brand setzen. So sicher wie jedes Jahr der Sommer kommt, so sicher werden sich die Juden inmitten eines Krieges wiederfinden. «Es gibt nichts Neues unter der Sonne», sagte einmal ein weiser Jude. Er meinte wohl die Sommersonne.

Der Jude sieht, wie sich die Leute um ihn herum auf den Sommer freuen, wie ihre Augen leuchten, wenn es endlich warm genug ist, um in die Badi zu gehen. Wie mit dem ersten Sonnenglanz ihr fröhlicher Mückentanz beginnt. Dieser Sommer ist nicht sein Sommer. Für ihn gibt es keine Sommerfreuden. Wer Jude ist, fürchtet den Sommer.

«Schatten, Schatten! Wer gibt mir ein wenig Schatten?», schrieb Bialik einmal in seiner Kindheitsbiografie. Doch von Jahr zu Jahr wird der Sommer heisser und länger und kein Schatten ist in Sicht.

Oded Fluss ist Leiter der Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich.

Oded Fluss