Die literarische Kolumne
«Antisemitismus ist ein Massenmedium; in dem Sinn, dass er anknüpft an unbewusste Triebregungen, Konflikte, Neigungen, Tendenzen, die er verstärkt und manipuliert, anstatt sie zum Bewusstsein zu erheben und aufzuklären. Er ist eine durch und durch antiaufklärerische Macht.»
Theodor W. Adorno
Da hat keiner an ein «Nie wieder» geglaubt, der denken kann, der mit Unbehagen beobachtet hat, wie schnell man Massen für jeden Mist begeistern, und gegen jede Minderheit aufbringen kann.
Dabei sind die Menschen nicht wählerisch, sie sind bereit alles und jeden zu bekämpfen, der sie scheinbar bedroht. Ihre Art, die Welt zu sehen, ihr Wohlgefühl.
Die Feindbilder unterliegen Moden und geopolitischen Interessen, nur eins bleibt konstant:
Jede, die sich für Geschichte interessiert, weiss, dass der Hass auf Juden so konstant ist wie Ebbe und Flut und die Dummheit der Menschen. Ob es die Pest ist, Corona oder Kriege, die die Regierung Israels immer und immer wieder führt, anstatt intelligente gerechte Lösungen zu suchen und Frieden zu schaffen – in verlässlicher Regelmässigkeit werden Juden oder Israelis (da ist es vollkommen egal ob sie Juden, Christen, Drusen, Atheisten aus Israel sind) gehasst, die mit all dem wenig zu tun haben, weil sie einfach nur Menschen sind wie Milliarden anderer, die überfordernde, normale Menschenleben haben.
Hass auf den Anderen, den angeblich Fremden, ist wie ein giftiger Schleim, der unter der Erde wohnt, der sich durch den Asphalt den Weg nach oben gräbt in Schaltjahren, oder wenn der Mond in einem Winkel steht. Unter der Erde hat er geschlafen, und von einer Welt ohne Fremde geträumt. Und was genau er damit meint, liegt im Nebel. Im Zweifel – Juden, die so schwer zu erkennen sind, alle eine Bank besitzen. Und an allem Schuld sind, auch am Leistenbruch und der Entlassung des Antisemiten.
Und jede Jüdin, jeder Jude muss bei aller Trauer, aller Angst immer eine Selbstgeisselung vornehmen, selbst wenn man – wie viele Juden – nie in Israel war, selbst wenn man ein glühender Verfechter des Friedens ist, oder einfach ein Leben hat, das voll ist mit all den Sorgen um die Erde, die man mit Mehrheiten teilt. Kaum ein Jude wird auf die wissenschaftlichen Leistungen im Weizmann-Institut angesprochen, auf Nobelpreisträger, Künstlerinnen, auf Literaten und was das Volk, an Leistungen für die Weltbevölkerung vorzuweisen hätte, wenn man schon so bescheuert wäre, einen Einzelnen nach Leistungsausweisen von Menschen mit ähnlicher Zugehörigkeit zu befragen.
Vom Raunen zum Angriff – im Moment sind es Angriffe auf Einzelpersonen, auf jüdische Einrichtungen, Synagogen, Boykotte und aggressive Parolen, Schmierereien, die nächste Stufe wollen wir uns nicht vorstellen. So viel ahnungsloses Gemurmel, irgendwelche Meinungen, seltsame Gefühle, den Hass befeuern. Die Legenden und die Abneigung gegen eine fixe Idee wachsen mit der mangelnden Aufklärung, der Abwesenheit von jüdischem im alltäglichen Leben, dem Tod der letzten Holocaust-Überlebenden. So massiv wie jetzt war der Hass, der schlummernd immer da ist und auf eine Gelegenheit wartet, salonfähig zu sein, selten.
Und so viel Wissen, das man verbreiten könnte – denn das Einzige, was hilft, die auf Unwissen basierten Vorurteile und den Hass zu bekämpfen, ist Aufklärung, Bildung. Das zu fordern und zu organisieren liegt in der Macht der Minderheit. Jetzt. Ehe es zu spät ist.
Sibylle Berg ist deutsch-schweizerische Schriftstellerin und Dramatikerin. Sie lebt in Zürich.