zur lage in israel 17. Okt 2025

Die gelbe Schleife loslassen

Nach fast zwei Jahren fragen sich jüdische Gemeinden, wie sie mit den Ritualen umgehen sollen, die seit dem 7. Oktober 2023 entstanden sind. Die letzten 20 lebenden Geiseln im Rahmen eines Waffenstillstands sind nun heimgekehrt. Die Erleichterung ist gross – zugleich bleiben 24 Verstorbene in Gaza vermutet, und ein dauerhafter Frieden wirkt fern. Viele fragen: Ist es Zeit, die gelben Schleifen, Anstecker und Erkennungsmarken abzulegen – und wenn ja, wie?

Wie zahlreiche Gemeinden führte die konservative Kongregation Beth El in South Orange, New Jersey, nach dem 7. Oktober neue Formen der Fürbitte und Erinnerung ein. Vor dem Gebäude hängt ein Schild «Bringt sie jetzt nach Hause». Rabbiner Jesse Olitzky ergänzte das Gebet «Acheinu» für die Befreiung von Gefangenen; wöchentlich wurde die Biografie einer Geisel gelesen, während Lieder des Friedens die Gottesdienste prägten. Viele trugen gelbe Bänder und Pins, ID-ähnliche Anhänger mit Namen der Vermissten; einige zündeten zusätzliche Schabbatkerzen an. Rachel Goldberg-Polin, deren Sohn Hersh später unter den Toten aufgefunden wurde, verbreitete die Praxis, ein Stück Klebeband zu tragen, auf das täglich die wachsende Zahl der Tage seit der Entführung geschrieben wurde.

In Beth El werden die Schilder in den Vorgärten stehen bleiben, bis alle Leichname zurückgeführt sind. Gleichzeitig freute sich die Gemeinde auf Simchat Thora: Der Feiertag fiel heuer auf den Vorabend der Freilassungen – und auf den zweiten Jahrestag der Hamas-Angriffe nach hebräischem Kalender. Für Olitzky war das ein seltenes Innehalten: «Wie so viele andere konnten wir nicht loslassen, bis die Geiseln nach Hause kamen. Jetzt gibt es das Gefühl, aufatmen zu können und, so Gott will, voranzugehen und allen israelischen Bürgern und Palästinensern die Möglichkeit zu geben, Frieden zu schaffen.»

Die Frage, ob und wann Symbole abgelegt werden, spaltet nicht, aber sie bewegt. Der israelische Musiker Yoni Bloch zeigte in einem Video im Januar Menschen, die «Bring them home»-Plakate abhängen und gelbe Bänder von Autotüren schneiden – damals erschien das vielen verfrüht. Heute überlegen Rabbinerinnen und Rabbiner, wie der Übergang gestaltet werden kann, ohne Trauer oder Solidarität zu untergraben.

Rabbinerin Yael Ridberg, bis vor Kurzem spirituelle Leiterin der Congregation Dor Hadash in San Diego, möchte die Schleife und den ID-Anhänger erst abnehmen, wenn alle Leichname heimgekehrt sind. «Ich freue mich darauf, sie wegzulegen, aber nicht, sie wegzuwerfen», schreibt sie. «Sie sind Andenken an eine Zeit, an die es wert ist, sich zu erinnern, so schwer sie auch war.»

Ronit Wolff Hanan, ehemalige Musikdirektorin von Beth Sholom in Teaneck, New Jersey, trägt ihre Schleife seit zwei Jahren. Sie beschreibt den Zwiespalt zwischen «unglaublicher Erleichterung und Freude» und der Trauer darüber, dass noch Leichen fehlen. «Wann ist es wirklich vorbei?», fragt sie. Ihr Partner, Rabbi Eli Havivi, hat seine Geisel-Erkennungsmarken mit blauem Malerband bedeckt – «es ist vorbei, aber noch nicht vorbei».

Auch in den sozialen Medien ringen Menschen mit dieser Frage. In einer Facebook-Gruppe jüdischer Frauen berichteten mehrere, dass sie die zusätzlichen Schabbatkerzen noch nicht weglassen wollen – aus spiritueller Verpflichtung, aber auch aus Sorge, ein Ende könnte wie eine Abwendung von den befreiten Geiseln wirken, wo doch viele von ihnen weiterhin mit psychischen und physischen Folgen kämpfen. Manche beriefen sich auf eine Stelle aus dem Talmud (Schabbat 21b), die die Chanukka-Metapher so auslegt, dass man Licht eher hinzufügt als verringert.

Andere begrüssen den Moment des Ablegens. Die Comiczeichnerin Periel Aschenbrand schrieb, sie könne es kaum erwarten, den Anstecker für Omri Miran, welcher am 7. Oktober vor den Augen seiner Frau und Kinder verschleppt wurde, abzunehmen und seine Rückkehr zu feiern. Laut der orthodoxen Influencerin Alyssa Goldwater hinterlässt das Abnehmen selbst auch eine Spur: «Wenn man eine Anstecknadel entfernt, verschwinden die winzigen Löcher nie ganz. Sie bleiben und erinnern daran, was geschehen ist – und daran, wer an unserer Seite stand und wer nicht.»

Der Wandel von Ritualen ist jüdische Normalität. Manche Ergänzungen werden dauerhaft: Das mittelalterliche Gedenkgebet «Av harachamim» entstand für die Opfer der Kreuzzüge und wurde später zur wöchentlichen Erinnerung an kollektive Tragödien. Anderes verschwindet: In den 1970er und 1980er Jahren «verbrüderten» sich Bar- und Bat-Mizwa-Jugendliche mit jüdischen «Refuseniks» in der Sowjetunion, die nicht emigrieren konnten. Sie trugen silberne Armbänder mit deren Namen und legten sie ab, als die Ausreisebeschränkungen abgeschafft wurden. Rabbiner Ethan Tucker, Präsident des Hadar-Institutes in New York, warnt deshalb: Jede Neuerung brauche «einen theoretischen Zeitstempel, wann sie die Bühne verlässt – ohne diese Planung bleibt sie als Ausstellungsstück stehen oder verblasst in Monotonie».

Gleichzeitig schien sich der jüdische Kalender mit den Gefühlen vieler zu verschwören. Simchat Thora gilt als Tag ausgelassener Freude; zentral ist die «hakafah», das Tanzen mit den Thorarollen. Im Vorjahr gelang das vielen Gemeinden kaum. In Beth El begann der Abend mit einer «feierlichen» Runde: stilles Summen der israelischen Hymne und eines düsteren hebräischen Lieds. Trost bot damals ein Satz von Rachel Goldberg-Polin: «Es gibt eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Tanzen – jetzt müssen wir beides tun.» Dieses Jahr ist der Ton ein anderer. Olitzky: «Letztes Jahr war es schwer, Freude zu finden. In den kommenden Tagen werden wir wieder singen und tanzen.»

Auch andernorts markiert man bewusst den Übergang. In Bethesda, Maryland, hebt Adat Shalom am Dienstagabend während der «hakafot» den «leeren Stuhl» von der Bima – jenen Stuhl, der seit dem 7. Oktober eine abwesende Geisel symbolisierte – und trägt ihn wie bei einer Hochzeit durch die Reihen. «Wir holen ihn aus der Tiefe, heben ihn hoch und machen ihn zum Mittelpunkt unserer Freude», sagt Rabbiner Scott Perlo.

Perlo weiss, dass viele zögern, Rituale aufzugeben – aus Furcht, das Aufhören möge wie ein schlechtes Omen wirken. «Ich sage dazu: Lasst es nicht völlig los, aber lasst es sich verwandeln.» Das gilt auch jenseits Israels: Viele beteten zugleich für die Sicherheit ihrer Familien, das Leid der Menschen in Gaza und den Zustand der amerikanischen Demokratie; es gibt «so viel zu beten», sagt Perlo, und so viele Spannungen, die in den Gottesdienst hineinragen.

In Las Vegas bittet Rabbiner Felipe Goodman (Temple Beth Sholom) die Gemeindemitglieder, ihre gelben Anstecker und Erkennungsmarken mitzubringen und auf einen traditionellen Thoramantel zu legen. Der Mantel wird als Gedenkstück am Eingang ausgestellt: Wer den Tempel betritt, erinnert sich an den 7. Oktober 2023, ohne das eigene Gebet dauerhaft an den Krieg zu ketten.

Dass Übergänge Worte und Gesten brauchen, zeigt ein Instagram-Gedicht der Rabbinerin Hanna Yerushalmi («Yellow Chairs»). Sie begrüsst die Verwandlung: «Leere Stühle werden für spät kommende Freunde reserviert, und Klebeband wird wieder Klebeband sein, und Erkennungsmarken werden weggeräumt und in Schubladen vergessen. Und Samstagabend wird wieder für Verabredungen sein.»

So entsteht – tastend, oft widersprüchlich – eine neue Liturgie für die Zeit nach der Freilassung. Manche werden ihre Schleifen heute abnehmen, andere sie sammeln und bewahren, wieder andere eine Weile weitertragen. Entscheidend ist weniger der Zeitpunkt als die Haltung: Dankbarkeit, Trauer, Verantwortung – und die Bereitschaft, Rituale nicht als starre Zeichen zu verstehen, sondern als bewegliche Gefässe, die erinnern und zugleich Raum für Heilung schaffen.

Andrew Silow-Carroll ist Journalist und Autor, der sich auf Themen rund um Judentum, Politik und Kultur spezialisiert hat. Er lebt in den USA.

Andrew Tobin