Dass der Mensch nicht vom Brot alleine lebe, steht bereits in unserer Thora (vgl. 5. B. M. 8:3). Intuitiv verstehen wir dieses geflügelte Wort so, dass frisches Brot als Zugabe durchaus in Ordnung ist, dass wir uns aber doch viel lieber üppiger ernähren. Ursprünglich meinte der Vers etwas ganz anderes: Der Mensch braucht, um wirklich zu leben, nicht nur physische, sondern auch geistige Nahrung. Als meine Mutter von der Stiftung Erziehung zur Toleranz dafür geehrt wurde, dass sie als Zeitzeugin in Schulklassen über ihr Leben und Überleben in Auschwitz sprach, stellte sie anlässlich der Preisverleihung ausgerechnet Brot in den Mittelpunkt ihrer kurzen Dankesrede. Mit einem Laib Brot in der Hand berichtete sie in beeindruckender Weise, dass eine Brotkruste im Vernichtungslager über Leben und Tod entscheiden konnte und dass sie sich schwor, niemals Brot wegzuwerfen.
Brotlaibe spielten auch im Stiftszelt eine bedeutende Rolle, wie wir in unserem Wochenabschnitt erfahren (3. B. M. 24:5–9). Gegenüber der Menora, an der nördlichen Wand des Heiligtums, stand ein Tisch mit Schaubroten aus vergoldetem Akazienholz.
Jeden Schabbat wurden zwölf Brotlaibe in zwei Schichten darauf platziert. Nach einer Woche wurden sie durch zwölf neue Brotlaibe ersetzt. Die alten gehörten den wachhabenden Kohanim und wurden von ihnen verzehrt. Der Talmud berichtet Erstaunliches über die Schaubrote: Sie blieben die ganze Woche warm und waren, als sie ersetzt wurden, so frisch wie am Tag, als sie gebacken wurden. Ausserdem genügte jeweils ein kleines Stück, um vollständig satt zu machen (vgl. Joma 21a). Der Terminus technicus für diese Wunderbrote lautet «lechem panim», gewöhnlich mit «Schau-brot» übersetzt. Über deren Bedeutung haben sich die Weisen viele Gedanken gemacht. Spätestens mit dem Erscheinen von «Führer der Verirrten», dem philosophischen Hauptwerk von Maimonides, vor etwas mehr als 800 Jahren stehen alle vor einem schier unüberwindbaren Problem. Maimonides hält nämlich fest: «Für den Tisch und dafür, dass sich auf diesem immer Brote befinden müssen, weiss ich den Grund nicht. Ich weiss auch bis heute nicht, zu welchem Dinge ich ihn in Beziehung bringen soll.» Ich wage dennoch, eine Theorie zu entwickeln. Sie beruht auf einer meiner Lieblingsgeschichten und ich hege die Hoffnung, dass sich Maimonides nicht mit Kindergeschichten auseinandergesetzt hat.
Als die Juden aus Spanien vertrieben wurden, floh der reiche Jakobi mit seiner treuen Ehefrau Esperanza nach Zfat. Dort lauschte er den Predigten des Rabbiners, obschon er kaum Hebräisch verstand. Eines Tages, am Schabbat Emor, bekam er immerhin die Worte «Gott» und «Brot» mit. Er eilte nach Hause und erklärte seiner Esperanza stolz: «Der Rabbiner hat erklärt, dass Gott Brot esse. Du bäckst die besten Challot im ganzen Lande. Geh und backe Brot für den Ewigen.» Esperanza tat, wie ihr geheissen. Jakobi brachte das Brot in die Synagoge und legte es in den Tho-raschrein. Wenige Augenblicke später betrat der Schammes die Synagoge. Während er das Bethaus aufräumte, sprach er zu Gott: «Du weisst, dass ich nichts lieber tue, als dir zu dienen. Trotzdem habe ich eine Bitte. Seit Monaten warte ich auf meinen kargen Lohn und meine Familie hat nichts zu essen. Ich brauch dringend ein Wunder.» Als er den Thoraschrein öffnete und die Brote erblickte, segnete er Gott und eilte nach Hause, um das Brot mit seiner Familie zu teilen. Als anderntags Jakobi bemerkte, dass sich die Brote nicht mehr im Thoraschrein befanden, war er überzeugt, dass Gott sie tatsächlich zu sich genommen hatte. Fortan buk seine Esperanza Woche für Woche Brot, welches der Schammes Woche für Woche nach Hause trug, bis eines Tages der Rabbiner Jakobi dabei er-wischte, Brot in den Thoraschrein zu legen und die ganze Sache auffliegen liess. Erbost führte er Jakobi und den Schammes vor und erklärte, Gott esse kein Brot. Beide waren entsetzlich enttäuscht. Da ertönte aus dem Innern der Synagoge die Stimme von Elijahu Hanawi: «Jakobis und Esperanzas Hände sind die Hände Gottes, weil sie die Bedürftigen ernähren. Die Hände des Schammes sind die Hände Gottes, weil sie anderen ermöglichen, die Welt zu verbessern. Fahrt fort, euch gegenseitig zu unterstützen.»
Ich denke, dass das die Bedeutung von Brot im Allgemeinen und vom Schaubrot im Stiftszelt im Speziellen darstellt. Brot repräsentiert die Partnerschaft von Himmel und Erde und von Gott und Mensch. Gott lässt es regnen, die Erde bringt Getreide hervor und der Mensch veredelt es. Brot ist auch das Produkt menschlicher Zusammenarbeit. Ben Zoma liess sich einst angesichts einer Menschenmenge im Tempel zu einem Segensspruch hinreissen und begründete dies damit, wie glücklich er sich schätze, dass er am Morgen fertiges Brot kaufen könne, während Adam alleine säen, ernten, dreschen, mahlen, kneten und ba-cken musste (Brachot 58a). Brot kann Menschen Gott und einander näherbringen. Jeder Bissen kann uns lehren, welch unglaublich gute Dinge wir mit Gottes Hilfe aus der Erde hervorbringen können, wenn wir zusammenwirken.
Michael Goldberger schrieb von 2001 bis 2012 Sidrabetrachtungen für tachles. Erschienen sind diese im Buch «Schwarzes Feuer auf weissem Feuer: Ein Blick zwischen die Zeilen der biblischen Wochenabschnitte», woraus dieser Text stammt.
Sidra Emor
16. Mai 2025
Die Bedeutung des Brots
Rabbiner Michael Goldberger