«Es ist auch ein guter Moment, um zu betonen, dass die Lektion der deutschen Geschichte nicht sein kann, dass die Deutschen Pazifisten sein müssen. Im Gegenteil: Seit fast einem Jahrhundert wissen wir, dass der Ruf nach Pazifismus angesichts einer aggressiven Diktatur oft nichts anderes ist als Appeasement und Hinnahme dieser Diktatur.»
Anne Applebaum
Freunde der historischen Aufzeichnungen könnten erstaunt feststellen, dass sich die Angriffe gegen Pazifisten seit mehr als 100 Jahren fast wortgleich ähneln. Utopisten, Vaterlandsverräter, Spinner, Feinde; die Angriffe auf Künstler, Intellektuelle und Diplomaten, die auch nur den kleinsten Versuch machen, Alternativen zum regelmässigen gegenseitigen Abschlachten von vornehmlich männlichen Jugendlichen, der Verwüstung, dem Tod von Menschen zu suchen, wurden immer flankiert von Zeitungen, den Medien, von regierungsnahen Propagandafachleuten, so lange diskreditiert, bis sie schwiegen.
Es scheint, als wären Kriege alternativlos, um das Lieblingswort Margrit Thatchers zu bemühen, kurzes Innehalten und wissen, ausser dem Tod ist weniges alternativlos auf der Welt und vieles nur eine Frage des Willens zur Umgestaltung. Wenn wir, fortschrittsbegeistert, unser Leben gerne an Codeketten auslagernd, heute von Kriegen reden, die der Grundpfeiler für Frieden sind, ist das natürlich bewusst erzählter Quatsch. Aufrüstung hat nie zu mehr Frieden geführt, das Inkaufnehmen von getöteten, traumatisierten, verwundeten Menschen erfolgt fast immer für geopolitische Ziele, für menschengemachten Bullshit, und Kriege enden fast immer durch Diplomatie, und sind nach einiger Zeit vergessen. Ausser bei den Betroffenen. Und so wird weiter für Kriege getrommelt, in Deutschland mit der Unterstützung der Kulturinstitutionen. Zu den Beispielen gehört der Friedenspreis des Buchhandels. Dieser ging 2024 an Anne Applebaum, einer «Kriege sind alternativlos»-Anhängerin, Frau des polnischen Aussen- und früheren Verteidigungsministers und Nato-Anhängers Radoslaw Sikorski. Ein anderer Friedensstifter war der Schriftsteller Serhij Schadan, der die russische Bevölkerung als «Verbrecher», «Unrat» «Barbaren» bezeichne, die er in der Hölle brennen sehen möchte. In diesem Jahr folgt als Friedenstaube der deutsche Historiker Karl Schlögel, ein Russland-Kenner und Warner, der sich, wie die Jury sagt, durch seine eindrückliche Mahnung an uns, dass es ohne eine freie Ukraine keinen Frieden in Europa geben kann, auszeichnet. Legitime Positionen, aber wo sind die Gegenstimmen?
Wo ist das Bemühen um Frieden und Pazifismus unter den Denkerinnen und Künstlern, wo sind die Preise für Friedensforschende, die Leitartikel und Interviews für andere als kriegerische Positionen? Wo sind die Friedenspreisträgerinnen, die sich für den Frieden einsetzen? Und warum ist Kriegspropaganda noch immer so wirkungsvoll? Und warum wird ausschliesslich vom Krieg in der Ukraine geredet, wenn wir doch ein globales Aggressionskrieg- und Zerstörungsproblem haben?
Es sind nicht Territorien, Nationalitäten, Vater- und Mutterländer, die wir denken sollten, sondern die Welt, die sich unter einem Dach befindet, die Menschen, die man manipulieren oder aufklären kann, der Frieden, der nicht durch Kriege erreicht wird, und unser Leben, das jedes Einzelnen, das heilig ist.
Sibylle Berg ist deutsch-schweizerische Schriftstellerin und Dramatikerin. Sie lebt in Zürich.
die literarische Kolumne
05. Sep 2025
Das heilige Leben
Sibylle Berg