standpunkt 03. Okt 2025

Burgs Bindestrich

Während weit mehr als dreier Jahrzehnte diente Josef Burg im vorigen Jahrhundert als Minister Israels. Wie lange genau, wissen nicht einmal Wikipedia und ChatGPT. Einem Bonmot zufolge soll die 1991 gefundene Gletschermumie Ötzi als Erstes gefragt haben, ob Burg immer noch israelischer Minister sei. Ich selbst erinnere mich daran, dass der füllige, leicht untersetzte Mann mit der grossen schwarzen Kippa bei seinen Zürcher Freunden von der national-religiösen Misrachi-Bewegung damals in den 1970er- und 1980er-Jahren ein äusserst gern gesehener Gast war. Etwa dann, wenn er hierzulande nach einer Dienstreise als würdiger Vertreter Israels und moderater Politiker den Schabbat verbrachte und abends im Minjan Wollishofen oder in einem Gemeindehaus ein kurzes aktuelles Update zur politischen Lage gab. In perfektem Deutsch versteht sich. Der gebürtige Dresdner mit dem phänomenalen Gedächtnis – der einzige Jecke, der je in einem israelischen Kabinett vertreten war – antwortete einmal auf die Frage, was denn das Wichtigste seiner national-religiösen Partei Misrachi sei, mit: «Der Bindestrich».

Aus diesem Grund spielte es für Burg keine Rolle, dass er in den Anfangsjahren Israels Regierungen des sozialistisch eingestellten David Ben Gurion angehörte und später als Innenminister unter Menachem Begin des rechtsgerichteten Likud diente. Zur selben Zeit gehörte ich in Zürich dem religiös-zionistischen Jugendbund Bne Akiwa an, der Misrachi-Jugendbewegung. Diese hatte sich das Motto «tora veavoda» («Thora und Arbeit») auf die Fahnen geschrieben. Ein Leben, das gleichermassen vom Studium der Heiligen Schrift, der «Halacha», dem «jüdischen Gesetz», und dem tatkräftigen Aufbau Israels erfüllt ist. Viele meiner früheren «chawerim und chawerot» («Kolleginnen und Kollegen») haben denn auch den kategorischen Imperativ von «tora veavoda» befolgt und sind nach Abschluss ihrer Schulzeit nach Israel ausgewandert beziehungsweise haben «alija» gemacht, den «Aufstieg» ins Heilige Land vollzogen. So heisst es auch noch heute positiv wertend, wenn eine jüdische Person ihre Zelte neu in Israel aufschlägt. Die wenigen zufälligen unpersönlichen Begegnungen mit Josef Burg und vor allem der Bne Akiwa haben mein zionistisches Weltbild und mein Verständnis von Judentum geprägt. Aber offenbar nicht ganz so nachhaltig, dass es für eine «Alija» gereicht hätte. Ich halte es wie Elie Wiesel, der einmal gesagt hat, dass er ausserhalb Israels leben könne, aber nicht ohne Israel.

Vor dem Sechstagekrieg im Juni 1967 hatten die Vertreter des «sakralen Zionismus» in Israels Politik eine eher bescheidene Rolle gespielt. Eine Ausnahme bildete das Oberrabbinat, mit dem sie schon immer offiziell das uneingeschränkte Sagen in Religionsangelegenheiten hatten. 1967 trat ich als Dreikäsehoch dem Bne Akiwa bei. In diesem Jahr eroberten Israel und andere Ostjerusalem mit seiner jüdischen Altstadt und das biblische Westjordanland beziehungsweise Judäa und Samaria. Bereits 1948, anlässlich der Staatsgründung Israels, hatte das Oberrabbinat die raffinierte Formel von «reschit tzmichat geulateinu» («Den Anfang des Erblühens unserer Erlösung») geprägt, die ich im Jugendbund dann das erste Mal beim gemeinsamen Tischgebet gehört hatte. Damit verknüpfte die zionistisch-religiöse Elite den modernen Staat Israel von allem Anfang an mit einer messianischen Verheissung. Aus innerer religiöser Überzeugung oder politischem Kalkül? Und genau hier kommt Burgs Bindestrich wieder ins Spiel: ein Bindestrich, der in Israels Politik in den letzten Jahren unter Binyamin Netanyahu einem Alles-oder-Nichts weichen musste.

Israel hatte kürzlich in Syrien militärisch Farbe und damit seine Solidarität für seine im Land lebenden Drusen gezeigt. Einer kleinen, äusserst loyalen und damit auch Militärdienst leistenden Minderheit. Damit hat sich mir die Frage gestellt: Wann bricht die Zeit an, wenn die «einzige Demokratie im Nahen Osten» wieder ein sichtbares Abbild aller ihrer Einwohnerinnen und Einwohner sein wird? Beispielsweise national-säkular, national-supranational, national-inklusiv. Hoffentlich noch vor dem Erscheinen des Messias.

Roger Weill war in den 1990er Jahren Redaktionsleiter der «Jüdischen Rundschau» und des «Israelitischen Wochenblatts».

Roger Weill