standpunkt 22. Aug 2025

Aus für den Sonderfall Schweiz

Das Fundament, auf dem sich die Schweiz seit Jahrhunderten wähnt, ist der unerschütterliche Glaube an die Ewigkeit des «uns kann nichts passieren». Mögen Stürme und Beben das Gefüge einer Weltordnung erschüttern, der Fels, auf dem sich das Land eingerichtet hat, würde nicht wanken. Kriege, Hunger, Revolutionen und Inflation machten einen Bogen um ein Land, das sich angesichts der Verschonung zunehmend im «Sonderfall Schweiz» eingerichtet hat. Mit diesem Leitmotiv liess sich bequem leben, mit sich selbst, wie auch mit der Welt. Eine Illusion, die verdrängte, dass alle epochemachenden Umbrüche und Entwicklungen der Schweiz nie aus eigenem Willen in Gang gesetzt worden sind. Sie kamen stets mit Druck von aussen, da in der Welt, in der sich die Schweiz gerne als Zuschauerin sieht, Kräfte am Werk waren, mit denen sich die Insel der Glückseligen stets zu arrangieren vermochte – auch Rückschläge und Demütigungen, die von der Schweiz – nach einem ersten Aufschrei – gerne bagatellisiert und dann ad acta gelegt wurden.

Pro memoria: Die Freiheit der Niederlassung für Juden wurde um 1860 der Schweiz von Frankreich, den Niederlanden und den USA mit der Androhung von Handelsboykotten aufgezwungen. Mit ähnlichen Druckmitteln wurde die Schweiz 1945 in Washington dazu gebracht, «Raubgold» im Wert von 250 Millionen Franken zu bezahlen und der Auslieferung deutscher Guthaben, die auf Schweizer Bankkonti lagen, zuzustimmen: «Für die Normalisierung der Beziehungen mit der Supermacht USA musste fast jedes Opfer in Kauf genommen werden», lautet das zeitgenössische Fazit. Ausgenommen von den damaligen Verhandlungen waren die sogenannten nachrichtenlosen Vermögen. Auch hierbei bedurfte es vierzig Jahre später erneut eines massiven Drucks von aussen, um Offenlegungen zu erzwingen, die der Politik und Wirtschaft des Sonderfalls jahrzehntelang als Einmischung in die inneren Angelegenheiten gegolten hatten. Als weitere Erinnerungsstütze für derzeit naiv agierende Magistraten mag die Preisgabe des «heiligen» Bankgeheimnisses erwähnt werden, das im Jahr 2014 auf Druck der Vereinigten Staaten zur Makulatur wurde. Und da wären auch noch die 7,5 Milliarden zu nennen, die Schweizer Banken für die Bedienung von US-Steuersündern abzuliefern hatten.

Angesichts einer langen Liste von Canossagängen kann man nur den Kopf über die Illusionen schütteln, denen sich der politische Apparat des Landes wieder einmal hingibt. Passend dazu haben sich SVP-Vizepräsidentin Magdalena Martullo-Blocher, «Trump liebt die Schweiz», oder Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter als Trump-Versteherinnen geoutet und politisch ganz bei sich lobte Keller-Sutter die NATO- und Europa-Schelte von Vizepräsident J. D. Vance als «liberal» und «schweizerisch» in hohen Tönen. Wie man nun sieht, hat all das Gesäusel nichts genutzt, um dem Sonderfall Schweiz Sonderkonditionen einzuräumen. Weshalb auch? Die US-Administrationen haben sich mit ihren Forderungen und Ansprüchen stets gegen die Schweiz durchgesetzt. Völlig unabhängig von politischen Mehrheiten und amtierenden Präsidenten. Am anderen Ende des Verhandlungstischs musste man das Diktat des Stärkeren stets mit nach Hause tragen und dann die Rechnungen begleichen. Auch wenn man dies gerne vergessen machen möchte, um nicht gar Lehren daraus zu ziehen.

Solange sich die USA noch politisch und strategisch mit Europa befassen werden, wird sich dieser Ton kaum ändern. Kommt es hingegen mittelbar zu einer weiteren Verschärfung des Handelskriegs und einer Neupositionierung der USA in der gemeinsamen Sicherheitsarchitektur, werden die Europäer sich um ihren Schutz selbst zu kümmern haben und diesen auch finanzieren müssen. Spätestens dann wird der selbst ernannte Sonderfall Schweiz nicht mehr zum Nulltarif unter einem europaweiten Schutzschirm integriert sein. Es passiert gerade zu viel, als dass dem Land nichts passieren könnte.

Gabriel Heim ist Journalist, Autor und Regisseur und lebt in Basel.

Gabriel Heim