nachruf auf Myrthe Dreyfuss-Kahn 10. Jan 2025

Zeitzeugin und Pionierin

Myrthe Dreyfuss-Kahn (1928–2025).

Myrthe Dreyfuss-Kahn formte die Schweizer Flüchtlingshilfe wesentlich, setzte sich für Gerechtigkeit gegenüber jüdischen und anderen Minderheiten ein – nun ist sie verstorben.

Myrthe Dreyfuss-Kahn stand für Flüchtlingshilfe, Gerechtigkeit und Zivilgesellschaft. Über Jahrzehnte prägte sie das politische Engagement der jüdischen Gemeinschaft. Als Präsidentin des Verbands Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen (VSJF) von 1985 bis 1996 gestaltete sie die Schweizer Flüchtlingspolitik der Gegenwart und deren spätere Aufarbeitung entscheidend mit. Am Montag verstarb die Grande Dame des Schweizer Judentums im Alter von 96 Jahren.

Geprägt von Geschichte
Geboren 1928 in Basel als Tochter von Hans David Kahn und Johanna Kahn-Weil aus dem baden-württembergischen Emmendingen nahe Freiburg i. Br., erlebte Myrthe Dreyfuss-Kahn als Einzelkind eine glückliche Kindheit und Jugend in Basel. Ihre Familie pflegte ein aktives soziales Leben, enge Freundschaften und starke familiäre Bande.

Nach der Grundschule besuchte sie das Mädchen-Gymnasium in Basel, das sie 1947 mit der Matura abschloss. Sie erinnerte sich später an diese Zeit: «Wir hatten einfach eine Menge Flüchtlinge bei uns, die ein warmes Zimmer suchten.» Sie dachte auch an die regelmässig zum Radiohören eintreffenden Freunde, die Lebensmittelrationierung, die oft ungeheizte Wohnung, in der sie im Winter im Mantel ihre Hausaufgaben machte, und die allgegenwärtige Angst. Dennoch rückte man enger zusammen, betonte sie, und es gab «überhaupt kein Klassendenken zwischen arm und reich».

Ihr Grossvater wurde am 10. November 1938 nach Dachau deportiert. Dank einer von ihren Eltern hinterlegten Kaution bei der Basler Fremdenpolizei konnten ihre Grosseltern im Februar 1939 als mittellose Emigranten mit 10 Reichsmark in die Schweiz einreisen.

Dreyfuss-Kahn blieb bis ins hohe Alter geprägt von Basels jüdischem Humanismus, ohne sich auf lokale Themen zu beschränken. Nach den Kriegsjahren widmete sie sich ihrer Bildung und Karriere. Nach zwei Semestern an der Universität Basel setzte sie ihr Studium in New York an der Columbia University fort, wo sie Kreditwesen, öffentliche Verwaltung und internationales Recht studierte. In Paris spezialisierte sie sich an der Faculté de droit auf Finanzwissenschaften. Anschliessend kehrte sie nach Basel zurück und promovierte 1955 mit einer Dissertation über die Frauenerwerbsarbeit in der Schweiz zur Dr. rer. pol.

Politisches Engagement
1956 heiratete Myrthe Kahn den Elektroingenieur Marc Dreyfuss. Ihre glückliche Ehe währte 28 Jahre, bis zu seinem frühen Tod. Das Paar hatte drei Kinder; inzwischen zählt die Familie fünf Enkel und fünf Urenkel.

Neben ihrem Engagement in jüdischen Vereinen, etwa als Präsidentin der Frauenloge und später des Israelitischen Frauenvereins Zürich, initiierte sie zahlreiche Projekte, darunter die Kinderkrippe Maon Jom. 1980 wurde sie zur Delegierten der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) gewählt. Ab 1985 übernahm sie das Sozialressort in der Geschäftsleitung des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG), einschliesslich des VSJF-Präsidiums.

Zu Beginn ihrer Amtszeit kümmerte sie sich um jüdische Flüchtlinge aus dem Iran, die politisch verfolgt wurden, sowie später um Flüchtlinge aus der Sowjetunion und Bosnien. Mit ihrem Einsatz verschaffte sie sich Respekt bei den Schweizer Behörden und trug wesentlich zur Rehabilitation von Hauptmann Paul Grüninger bei.

Im Frühling 1996 zog sie sich aus der Geschäftsleitung des SIG zurück, blieb jedoch bis zuletzt eine kritische Beobachterin. Noch vor wenigen Monaten forderte sie einen kostenbewussten Umgang mit Verbandsgeldern und bestand darauf, dass die Zweckbestimmung des VSJF – die Flüchtlingshilfe – ein unverrückbares jüdisches Primat bleibe.

Vermächtnis
Myrthe Dreyfuss-Kahn blieb bis ins hohe Alter aktiv und eine lebendige Zeugin der Zeitgeschichte. Mit ihrem beeindruckenden Erinnerungsvermögen schilderte sie anschaulich die Kriegs- und Nachkriegszeit sowie die Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz. Ihr Einsatz für die Schwachen setzte einen Massstab, der nicht in Vergessenheit geraten darf.

Yves Kugelmann