GESCHICHTE 12. Jun 2025

«Wir können eine Leuchtfunktion übernehmen»

Sacha Lifschitz (3. v.l.) mit den Stiftungsräten Zsolt Balkanyi-Guery, Noëmi van Gelder, Jacques Picard, Mirjam Rosenstein, Nadia Biasini Guth, Gregor Spuler, Karen Roth-Krauthammer, Ralph Lewin.

Sacha Lifschitz ist neuer Präsident der Stiftung Jüdische Zeitgeschichte – im tachles-Gespräch blickt er auf Anforderungen nach 80 Jahre Befreiung und historischen Transfer.

tachles: Sie folgen auf den Historiker Jacques Picard als Präsident der Stiftung Jüdische Zeitgeschichte an der ETH Zürich, haben jahrelang in der Wirtschaft gearbeitet und sind Unternehmer. Steht jetzt Fundraising im Vordergrund?

Sacha Lifschitz: Nicht nur, aber das Fundraising ist sehr wichtig, und ich bin ja Präsident der Stiftung und nicht der Dokumentationsstelle selbst. Die Hauptaufgabe der Stiftung ist die Finanzierung der Dokumentationsstelle Jüdische Zeitgeschichte am Archiv für Zeitgeschichte (AfZ). Es war nach 30 Jahren sicher auch Zeit, dass eine neue Generation antritt. Ich bin zwar Ökonom, habe aber auch mal auf dem zweiten Bildungsweg Geschichte studiert und dadurch eine gewisse Nähe. Das AfZ kenne ich ja auch schon aus meiner Zeit bei der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus. Ich sehe das also als schöne Herausforderung, mich hier aktiv zu betätigen.

Was ist heute für eine solche Institution wichtig?

Angesichts der Diskussionen auf Bundesebene um Sparmassnahmen für Institutionen wie etwa die ETH sehe ich es als eine Kernaufgabe, eine gewisse Selbständigkeit des AfZ generell und spezifisch der Dokumentationsstelle Jüdische Zeitgeschichte aufrechtzuerhalten. Es ist wichtig und gut, Teil eines grossen Komplexes wie der ETH zu sein, aber ebenso wichtig ist es, dass die Kernaufgaben auch auf einem Mikrolevel von uns betreut werden können. Dies, um die Nuancen zu bewahren, die ein solches Archiv eben braucht und bietet, und Ansehen auch in der Gesellschaft zu haben, um ernst genommen zu werden.

Archiv bedeutet Berge von Dokumenten, Fleissarbeit und Organisation. Was ist dabei für Sie Pflicht und was Kür?

Unsere Kernaufgabe ist das Dokumentieren der jüdischen Zeitgeschichte vom 19. Jahrhundert bis heute. Das müssen wir weiterführen. Wir sehen indessen unsere Hauptaufgabe – sofern das als Kür bezeichnet werden kann – in der Erschliessung und öffentlichen Zurverfügungstellung der ganzen Dokumentation zu jüdischen Flüchtlingen und Holocaust-Überlebenden seit dem Zweiten Weltkrieg. Dafür pflegen wir eine sehr enge Zusammenarbeit mit dem VSJF, die uns ihre Dossiers seit langer Zeit einliefern, damit wir sie erschliessen, dokumentieren und wissenschaftlich aufarbeiten können.

Spüren Sie, dass die Themen Flüchtlinge und Holocaust wieder an Wichtigkeit gewinnen?

Die Wichtigkeit ist leider durch den 7. Oktober und seine antisemitischen und rassistischen Folgen tragisch wieder vorhanden. Weltweit, aber auch in der Schweiz hat das wieder eine starke Brisanz und Aktualität – noch vor zwei Jahren kaum vorstellbar. Umso wichtiger ist also, dass wir unsere Arbeit machen können. 80 Jahre nach Kriegsende schwindet auch die Zahl der Holocaust-Zeitzeugen, die in Schulen und der Gesellschaft berichten können. Um die Aufklärung weiterführen zu können, ist eine saubere, professionell-wissenschaftliche Dokumentation an einem einzigen Ort also praktisch der einzige Weg.

Was tun Sie im Bereich Vermittlungsarbeit?

Da gibt es mehrere Punkte, die wir teils schon aufgegleist haben, teils sicher aber noch weiter auszubauen sind. Da ist einerseits die Digitalisierung der Dokumente, damit jedermann niederschwelligen und einfachen Zugriff darauf haben kann – Studierende, Medien, Historiker und generell interessierte Kreise der Zivilgesellschaft. Mehr machen möchten wir beim vermehrten Gang an die Öffentlichkeit. Das Archiv mit seinen Dokumenten, Büchern, filmischen und fotografischen Belegen oder auch Gegenständen wie Judenpässen, Häftlingskleidern und so weiter soll ja kein Grab sein. Das können wir einerseits durch Unterstützung wissenschaftlicher Arbeiten, auch als Geldgeber von Forschungsbeiträgen zu für uns wesentlichen Themen, machen. Andererseits möchten wir vermehrt an die Öffentlichkeit gehen und unsere wissenschaftliche Kernkompetenz beweisen, etwa durch Vorträge, was wir auch heute schon tun. Wir möchten also nicht einfach warten, bis die Leute zu uns kommen.

In letzter Zeit beschäftigen sich etliche neue Institutionen mit dieser Thematik, weil da auch Fördermittel unter anderem vom Staat fliessen. Wie kann man sich in einem solchen kompetitiven Markt wissenschaftlich und punkto Mittelbeschaffung profilieren?

Ich kann mir vorstellen, dass wir eine Netzwerkfunktion als Knotenpunkt übernehmen könnten. Das Archivgut spricht für sich, und wenn wir das anpreisen und ein gutes Renommee mit unseren Wissenschaftlern haben, könnten wir das durchaus machen. Wir tun das teils ja heute schon, etwa in der Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum in Basel oder dem Landesmuseum anlässlich der Anne-Frank-Ausstellung, wo wir Exponate, Expertise und Beratung bieten konnten. Wir arbeiten auch mit dem US Holocaust Memorial Museum für die Digitalisierung zusammen und haben Kooperationen mit Gemeinden und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen wie der GRA. Ich denke, wir können einen grossen Beitrag leisten, um die vielfältigen Akteure zusammenzubringen.

Der politische Angriff auf Wissenschaften und anderes resultiert wohl in einer neuen Wichtigkeit auch im Kampf um Narrative. Sind Sie hierzulande davon betroffen?

Das Archiv ist von dieser Problematik nicht betroffen, wir müssen uns nicht verteidigen. Aber ich sehe es auch als Aufgabe, unter diesem Aspekt eine aktive Rolle zu spielen. Sei es durch das Zusammenbringen der Akteure, sei es durch vermehrte Veröffentlichung wissenschaftlicher Arbeiten. Wir könnten da eine Leuchtturmfunktion übernehmen, gerade auch mit dem Hintergrund der ETH und des wissenschaftlichen Vertrauens, das diese geniesst, und die Narrative so erzählen, wie wir sie für richtig halten. Wir könnten auch die andere Seite ins Boot holen, um einen wissenschaftlichen Diskurs zu ermöglichen.

Angesichts der wieder entstandenen Flüchtlingsproblematik in Europa sind Ihre Dossiers nicht nur Vergangenheit. Wie gehen Sie mit aktuellen Flüchtlingsgeschichten um?

Derzeit ist das noch kein Thema, aber wenn es dann mal aufkommt, ist es natürlich spannend, hier die Parallelen zu ziehen. Zu schauen, wie es in der Vergangenheit gelaufen ist, was gut war und was schlecht, und wie wir diese Erkenntnisse heute nutzen können. Ein Schnittpunkt, der auch eine Aufgabe einer Institution wie der unseren ist.

Was war Ihre persönliche Motivation als noch relativ junger Amtsinhaber, die Herausforderung anzunehmen?

Es ist für mich auch ein wenig eine Weiterführung meiner Tätigkeit – ich habe in den letzten Jahren in verschiedenen Gremien mitgearbeitet und gesehen, dass Bildung der eigentliche Kern einer gesellschaftlichen Entwicklung ist, um den Bogen zu einer historischen Weltgeschichte zu spannen. Das AfZ ist für mich die perfekte Institution, um einerseits meine Erfahrungen der letzten 30, 40 Jahre zu nutzen und anderseits meinen persönlichen Interessen an Geschichte, gesellschaftlichen Entwicklungen und der Bekämpfung von Antisemitismus nachzuleben. Im AfZ kommt das für mich alles irgendwie zusammen.

Auch die Diskussionen um Erinnerungskultur, Identitätspolitik und anderes mehr sind lebhafter geworden. Wie sehen Sie auf diese?

Ich bin sehr froh, dass es endlich einmal – nach 80 Jahren – in der Schweiz ein Holocaust-Memorial geben soll. Ich begrüsse auch die angedachte Idee, in St. Gallen ein Zentrum für Vermittlung zu schaffen. Es ist mehr als Zeit dafür. Unsere Rolle dabei ist vielseitig. Einerseits ist unser Archivleiter Dr. Gregor Spuhler im Lenkungsausschuss des Bundes dabei und ist nun auch Jurymitglied für das Memorial. Dr. Sabina Bossert, Leiterin der Dokumentationsstelle Jüdische Zeitgeschichte, ist im Projekt in St. Gallen zur Planung des Vermittlungszentrums «Flucht» involviert. Die Nachfolgerin von Gregor Spuhler, der Ende des Jahres pensioniert wird, Dr. Daniela Zetti, wird ebenfalls Delegationsfunktionen übernehmen. Wir waren also von Anfang an dabei.

Hier um die Ecke steht das Kunsthaus mit der Bührle-Sammlung. Wie blicken Sie auf die schweizerische Kompetenz, sich selbst historisch richtig einzustufen und mit diesen Themen gut auseinanderzusetzen?

Mit Blick auf die gesamte Thematik inklusive der nachrichtenlosen Vermögen in den neunziger Jahren: Die Nabelschau ist keine Kernkompetenz der Schweizer Gesellschaft. Für mich ist es erschreckend, wie blind man sein kann, weil man einfach wegschaut. Aber das gilt generell für unseren Umgang mit Minderheiten, anderen Religionen etc. Die Schweizer Gesellschaft schaut einfach lieber weg als hin, und die Bührle-Diskussion ist ein gutes Beispiel dafür. Der Elefant im Raum ist bekannt. Es bräuchte Goodwill, Geld, die richtigen Ressourcen und Zeit, aber man weiss doch eigentlich, wie man dies handhaben sollte, wie dokumentiert werden müsste, wo die einzelnen Fluchtgüter herkommen. Das wäre allenfalls auch eine Möglichkeit, zumindest für einen Beitrag des AfZ die wissenschaftliche Aufarbeitung zu leisten. Ich hoffe, dass die Zeit dafür langsam reif wird. Es ist zu viel Porzellan zerschlagen worden.

Die Schweiz als kleines Land war in der Flüchtlingsgeschichte des Zweiten Weltkriegs ein Zentrum, ein Kernland. Sehen Sie Perspektiven dafür, dass man das AfZ mit der angesehenen ETH im Hintergrund international sichtbarer machen kann?

Es bestehen bereits gewisse Zusammenarbeiten, und ein solcher internationaler Austausch wird je länger, desto wichtiger. Wir werden dafür als Stiftung zwar nicht auf der operativen Seite etwas anstossen, aber einen Input geben. Wir arbeiten ja sehr eng mit dem AfZ zusammen. Ich hoffe, dass wir da Impulse setzen können, das Wissen international herauszutragen und auch die Leute hierherzubringen, um Konferenzen, Austausch von Informationen und Zugänglichkeit gegenseitig gewährleisten zu können. Es wäre gut, wenn wir die derzeit vielleicht wieder im Aufbau begriffenen Scheuklappen im Lichte der Angriffe auf die Wissenschaft zugunsten einer weltweiten Zusammenarbeit bald wieder hinter uns lassen könnten. Und dass zumindest die Schweiz als neutraler, kleiner Staat, der doch immer nach aussen geschaut hat und nach aussen schauen musste, ihre diesbezüglichen Fähigkeiten für eine internationale Zusammenarbeit und deren Förderung einsetzen kann.
 

Yves Kugelmann