Debatte 31. Okt 2025

Religion im Schulzimmer

Das Kopftuch bleibt die ideologische Kampfzone von Befürwortern und Gegnern.

Kaum ein Stück Stoff sorgt für so viele Debatten wie das Kopftuch – für die einen ein Ausdruck von Glaube und Identität, für andere ein Symbol von Kontrolle und tradierten Geschlechterrollen – zur neusten Debatte in der Schweiz.

Seit vergangenem Jahr sorgt das Thema erneut für Diskussionen. Im Juni 2024 nahm das Parlament ein Postulat der Aargauer Mitte-Ständerätin Marianne Binder-Keller an, das den Bundesrat beauftragte, ein mögliches Verbot von Kinderkopftüchern an Schulen und Kindergärten zu prüfen. Binder-Keller argumentierte, das Kopftuch sei kein Ausdruck religiöser Freiheit, sondern ein Symbol von Unterordnung und Diskriminierung. Schulen müssten Orte freier Entfaltung und Chancengleichheit bleiben – nicht Schauplätze religiöser oder geschlechtsspezifischer Markierungen.

Neutralität ohne Laizismus
In einem Bericht vom 22. Oktober kommt die Regierung jedoch zum Schluss, dass ein nationales Kopftuchverbot verfassungswidrig wäre. Die Religionsfreiheit gelte auch für Kinder, und das bestehende Recht sichere ihre Teilnahme am Unterricht bereits ab. Zugleich verweist der Bundesrat auf die Verantwortung der Kantone, das Verhältnis zwischen Kinderschutz und individueller Freiheit sorgfältig abzuwägen. Sichtbare Glaubenssymbole wie Kopftuch, Kippa oder Kreuz seien Teil geschützter Religionsausübung, solange sie keine Rechte Dritter verletzen. Neutralität bedeute in der Schweiz keine laizistische Trennung nach französischem Vorbild, sondern eine offene Haltung gegenüber allen Religionen. Ein generelles Verbot religiöser Symbole wäre damit unvereinbar.

Ein alter Streit in neuer Form
Der Bericht liefert eine juristisch präzise, aber politisch kaum befriedigende Antwort. Denn die Auseinandersetzung um religiöse Kleidung ist in der Schweiz längst ein wiederkehrendes Thema. Schon 2021 wurde über die Burka-Initiative abgestimmt, seither kehrt die Frage regelmässig zurück, etwa bei Debatten um Lehrpersonen mit Kopftuch in St. Gallen oder um religiöse Symbole im Unterricht. Auch neue Vorstösse sind bereits unterwegs: Das Egerkinger Komitee denkt über ein nationales Kopftuchverbot an Schulen nach, die SVP Zug sammelt Unterschriften für ein kantonales Verbot religiöser Kopfbedeckungen, und im Parlament fordert eine Motion der Lega dei Ticinesi ein Kopftuchverbot für Mädchen unter 15 Jahren.

Immer geht es um dieselbe Grundfrage: Wie sichtbar darf Religion im öffentlichen Raum sein und wo endet die Neutralität des Staates? Die Antworten auf diese Frage fallen unterschiedlich aus.

Für den Basler Judaistikprofessor und Autor Alfred Bodenheimer ist die Gefahr offensichtlich: «Am Schluss landet es immer bei den Juden», sagt er. «Das war schon bei der Beschneidungsdebatte so: Ausgangspunkt war ein muslimischer Fall, aber plötzlich wurde über jüdisches Leben gestritten.» Ein Kopftuchverbot für Kinder, meint er, würde über kurz oder lang auch jüdische Ausdrucksformen treffen. «Dann heisst es, wenn die Schule neutral sein soll, muss alles weg – auch die Kippa.»

Bodenheimer sieht darin ein grundsätzliches Missverständnis staatlicher Neutralität. «Entscheidend ist nicht, was auf dem Kopf, sondern was im Kopf ist», sagt er. «Das Denken, nicht die Kleidung zählt.» Die Vorstellung, Neutralität lasse sich durch das Entfernen religiöser Zeichen herstellen, hält er für gefährlich, gerade für Minderheiten. «Wenn man Menschen das äussere Bekenntnis verbietet, entzieht man ihnen auch einen Teil ihrer Identität. Und das betrifft alle Religionen.»

Er erinnert sich an seine Schulzeit: «Wir waren die erste Generation, die in der Schweiz offen eine Kippa trug. Das war ein Zeichen dafür, dass man in diesem Land seine Identität zeigen kann, ohne Angst zu haben, nicht aus Trotz, sondern als Selbstverständlichkeit.»

Wenn der Staat beginne, das zu untergraben, verliere er etwas, das die Schweiz auszeichne: die Freiheit, als Minderheit sichtbar zu sein, ohne sich abgrenzen zu müssen. «Ich sage immer: Wenn ich in der Öffentlichkeit eine Kippa trage, dann ist das nicht nur ein Bekenntnis zum Judentum, sondern auch zur Schweiz, zu einem Land, in dem das funktioniert.»

Vor allem bei Kindern hält er Verbote für kontraproduktiv. «Bringt man sie in einen Loyalitätskonflikt zwischen Elternhaus und Schule, Religion und Staat, beschädigt man ihr Vertrauen. Sie werden nicht offener, sondern verschlossener. Man muss sie abholen, nicht in einen Konflikt treiben.» In der Schule sollten Kinder lernen, Teil einer pluralistischen Gesellschaft zu sein, nicht zum Schauplatz ihrer Spannungen werden. «Wie jemand rumläuft, spielt am Ende keine Rolle. Wichtig ist, dass er oder sie Akzeptanz lernt: Du darfst deinen Weg gehen und andere auch.»

Keine religiöse Vorschrift
Anders klingt es bei Jasmin El-Sonbati, Gymnasiallehrerin, Autorin und Muslimin. Sie trägt selbst kein Kopftuch: «Es ist ein den Frauen von Männern aufgezwungenes Erscheinungsbild, und dies erst seit den späten siebziger Jahren.» Früher, sagt sie, hätten Frauen in Kairo, Damaskus oder Beirut selten Kopftücher getragen. Erst durch den Einfluss konservativer Golfstaaten habe sich dieses Phänomen auch in Europa etabliert.

El-Sonbati betont, dass das Kopftuch keine religiöse Vorschrift sei: «Es ist reine Interpretationssache, ob dieses Kopftuch wirklich ‹zum Islam gehört›, wie uns salafistische Kreise zu verstehen geben.» Selbst in islamischen Ländern bestehe kein gesetzlicher Zwang. «Sogar Saudi-Arabien, das konservativste Land und Hüter der heiligen Stätten, hat in dieser Causa die Regeln gelockert.»

Gleichzeitig erkennt sie die Grenzen staatlichen Handelns an: «Das generelle Kopftuchverbot greift in die Erziehungsgewalt der Eltern ein. Diese kann nur begrenzt werden, wenn wirklich physische und nachweislich psychische Gewalt ausgeübt wird.» Dennoch befürwortet sie Einschränkungen im Schulkontext: «In der obligatorischen Volksschule sollten keine religiösen Symbole zugelassen werden. Ab 16 – mit der Religionsmündigkeit – soll Wahlfreiheit gelten, bei gleichzeitiger Einhaltung aller schulischen Aktivitäten.»

Ihr Plädoyer gilt dem Augenmass. Mit Verweis auf Voltaire sagt sie: «Ne soyez ni intolérants, ni intolérables – also weder intolerant noch unzumutbar sein.» So könne der Gesellschaft «eine Kippa, ein Piercing, eine Irokesenfrisur und nota bene ein Kopftuch» zugemutet werden. Für Lehrpersonen in staatlichen Schulen hingegen zieht sie eine klare Linie: «Alles, was zu ideologisch gefärbt ist, ist einer freiheitlichen Gesellschaft abträglich.»

Religionskonflikte im Schulalltag sieht sie selten als Hauptproblem. «In der Regel kann man das im Gespräch bereinigen. Wichtig ist: ‹Du bist hier zum Lernen, wir geben dir die Gelegenheit dazu, du hältst dich an Regeln.› Ganz einfach.»

Zwischen Pädagogik und Rechtsrahmen
Religionspädagogin Eva Pruschy betont die notwendige Güterabwägung: «Hier wiegt das durch die Bundesverfassung garantierte Recht auf Religionsfreiheit schwerer – ebenso das Recht der Eltern, bis zum 16. Altersjahr über die religiöse Erziehung ihrer Kinder zu entscheiden», sagt sie. In anderen Fällen, etwa beim Schwimmunterricht, habe das Bundesgericht «Integration und Sicherheit höher gewichtet als die Religionsausübung».

Der Staat müsse neutral bleiben, «deshalb ist den Lehrpersonen grosse Zurückhaltung auferlegt, was das Zeigen religiöser Symbole anbelangt». Kinder und Jugendliche dürften ihre Religion ausüben, «solange der Schulalltag dadurch nicht wesentlich beeinträchtigt wird». Eine Einheitslösung gebe es nicht, jede Schule müsse eigene Regeln finden.

Ob die aktuelle Kopftuchdiskussion überhaupt ein echtes Anliegen sei, bezweifelt sie: «Vielleicht geht es um die Angst vor islamistischem Einfluss – aber der wäre auch ohne Kopftuch wirksam. Geht es darum, Muslime in die Schranken zu weisen, wäre das ein rassistischer Beweggrund.»

Im Unterricht legt Pruschy Wert auf Vielfalt: «Wir betonen die Vielstimmigkeit religiöser Traditionen. Es steht Aussenstehenden nicht zu, die ‹richtige› Interpretation des Kopftuchs zu bestimmen. Wir Jüdinnen und Juden würden uns auch dagegen verwehren.» Wenn man über ein Kopftuchverbot rede, «müsste man aus Gründen der Gleichbehandlung auch über andere religiöse Zeichen sprechen». Die Schule habe schliesslich eine integrative Aufgabe. «In Frankreich werden religiöse Symbole verbannt. In der Schweiz anerkennen wir religiöse und kulturelle Pluralität und machen sie zum Thema im Unterricht.»

Neugier statt Misstrauen
Ähnlich argumentiert Csongor Kozma, Direktor der Paulus-Akademie und Leiter des Fachbereichs Philosophie und Politik. Für ihn ist die Kopftuchfrage kein religiöses, sondern ein politisches Thema. «Es geht weder um den Schleier noch um das Kopftuch noch um den Davidstern – im Hintergrund geht es immer um Politik», sagt er. Die zunehmende Ablehnung religiöser Symbole deutet er als Ausdruck eines wachsenden Antiislamismus.

Er betont, dass moderne Demokratien auf den Menschenrechten beruhen und deren Pfeiler auch die Religionsfreiheit sei, «die nicht verhandelbar ist». Neutralität dürfe aber nicht mit Gleichmacherei verwechselt werden. «Die Schweiz kann neutral sein – aber eine Schule war nie neutral und sollte es auch nicht werden. Religion und Werte gehören von Anfang an zur Erziehung.» Die Aufgabe der Schule sei es, Kinder zu selbstständigen Menschen zu erziehen, «die zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen». Verbote hält er für den falschen Weg: «Statt uns über Symbole zu empören, könnten wir uns freuen – über Vielfalt.» Er plädiert dafür, religiöse Zeichen zum Lernstoff zu machen: «Man könnte Kinder, die ein Kopftuch oder eine Kippa tragen, erzählen lassen, was das für sie bedeutet. Dann entsteht Neugier statt Misstrauen.»

Kozma sieht in der Debatte auch eine Frage der Geschlechtergerechtigkeit. «Die Diskussion über Religionsfreiheit wird auf dem Körper von Frauen und Mädchen ausgetragen. Das stört mich besonders, weil viele, die heute von Frauen- oder Kinderschutz reden, sich sonst kaum dafür einsetzen.» Dass weibliche Körper zum Symbol politischer Machtkämpfe werden, empfindet er als «heuchlerisch und gefährlich». Sein Fazit: «Wenn man an der Religionsfreiheit rüttelt, hört es nicht beim Kopftuch auf. Dann geht es weiter – erst zur Kippa, dann zum Kreuz.»

Zwischen diesen Positionen zeichnen sich keine einfachen Kompromisse ab, wohl aber unterschiedliche Schwerpunkte. Was alle eint, ist der Wunsch nach Mündigkeit: Kinder sollen lernen, kritisch zu denken und nicht über ein Kopftuch definiert werden. Offen bleibt, ob die Schweiz ihre Neutralität weiterhin als gleichberechtigte Sichtbarkeit versteht oder sich einem restriktiveren Modell annähert. Klar ist nur: Die Diskussion über Religion im schulischen Alltag wird sich nicht rasch beruhigen.

Emily Langloh