Jerusalem 16. Nov 2025

Weisswaschung oder Aufklärung?

Während einer Kundgebung in Tel Aviv am Samstag hielten Demonstrierende ein Banner mit der Aufschrift «staatliche Untersuchungskommission».

Israels Regierung setzt eigenen Untersuchungsausschuss zu 7. Oktober ein

Die israelische Regierung hat am Sonntag beschlossen, einen eigenen Untersuchungsausschuss zu den Versäumnissen rund um den Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 einzusetzen und damit auf die Einsetzung einer staatlichen Untersuchungskommission zu verzichten, wie sie in solchen Fällen bislang üblich war und von einer Mehrheit der Israelis befürwortet wird.

Der neue Ausschuss wird zwar als «unabhängig» bezeichnet, sein Mandat soll jedoch von Kabinettsmitgliedern festgelegt werden; Ministerpräsident Binyamin Netanyahu richtet dafür ein spezielles Ministerkomitee ein, das innerhalb von 45 Tagen Vorschläge zu Aufgaben, Themen und Untersuchungszeiträumen vorlegen soll. Die Regierung betont, die Zusammensetzung solle «möglichst breite öffentliche Zustimmung» erhalten und der Ausschuss erhalte «vollumfängliche Ermittlungsbefugnisse», ohne dass deren genauer Umfang bislang öffentlich gemacht wurde. 

Eine staatliche Untersuchungskommission – wie sie nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973 oder dem Massaker von Sabra und Schatila 1982 eingesetzt wurde – hätte demgegenüber weitreichende Sonderrechte, einschliesslich Zeugenvorladungen, und ihre Mitglieder würden von der Präsidentin des Obersten Gerichtshofs ernannt, was sie der direkten Kontrolle der Regierung entzieht. Netanyahu hatte ein solches Gremium wiederholt mit dem Argument abgelehnt, es geniesse in der Öffentlichkeit keinen ausreichenden Konsens, und warb stattdessen für eine parteiübergreifende Kommission nach dem Vorbild des US amerikanischen 9/11 Komitees.

Innerhalb der Koalition herrscht jedoch Uneinigkeit über Konstruktion und Befugnisse des neuen Gremiums: Diasporaminister Amichai Chikli plädierte laut Berichten dafür, dass Koalition und Opposition gegenseitige Vetorechte bei der Besetzung erhalten, während Minister Ze’ev Elkin vorschlug, der stellvertretende Präsident des Obersten Gerichtshofs, Noam Solberg, solle die Mitglieder auswählen. Aussenminister Gideon Sa’ar regte an, das Gesetz so zu ändern, dass pensionierte Höchstrichter die Zusammensetzung bestimmen können – um das Prinzip zu wahren, dass nicht die politische Führung über ihre eigenen Prüfer entscheidet.

Dem stehen Hardliner in der Regierung gegenüber, darunter Regionalkooperationsminister Dudi Amsalem und Nationalen Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir, die jegliche Rolle der Justiz ablehnen und fordern, der Ausschuss solle auch die Gerichte und Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara untersuchen. Nach Koalitionsangaben soll der Untersuchungsauftrag zudem über den 7. Oktober und die daran anschliessende Kriegsführung hinausgehen und auch den Einfluss der Anti-Regierungsproteste sowie Entscheidungen des Obersten Gerichts auf die Kalkulation der Hamas beleuchten.

Opposition, zivilgesellschaftliche Organisationen und Vertreter von Opfer- und Hinterbliebenengruppen werfen Netanyahu vor, mit einem von der Regierung dominierten Gremium Aufklärung verwässern und persönliche Verantwortung vermeiden zu wollen. Oppositionsführer Yair Lapid sprach von einem Versuch, «der Wahrheit zu entkommen und Verantwortung zu umgehen», und kündigte an, nach einem Regierungswechsel eine staatliche Untersuchungskommission einzusetzen. Auch Ex-General Yair Golan und Gadi Eisenkot kritisierten den Plan als «Weisswaschungs-Kommission», in der diejenigen über Mandat und Besetzung entschieden, die selbst im Fokus der Untersuchung stünden.

Die Bewegung für Qualitätsregierung sprach von einem «transparenten Versuch», eine echte, unabhängige Aufarbeitung des «grössten Versagens in der Geschichte des Landes» zu verhindern, und betonte, die zurückgekehrten Geiseln, die Gefallenen und die gesamte Öffentlichkeit hätten Anspruch auf eine unparteiische Untersuchung. Der «Oktober-Rat», der nach eigenen Angaben rund 2.000 betroffene Familien vertritt, bezeichnete das Vorhaben als «Vertuschungskommission» und warf der Regierung vor, «als Angeklagte ihre eigenen Ermittler ernennen» zu wollen. Die Gruppe rief zugleich zu verstärkten Samstagsprotesten in Tel Aviv und anderen Städten auf, nachdem am Wochenende erneut Tausende für die Einsetzung einer staatlichen Kommission demonstriert hatten.

Redaktion