Wöchentlich am Freitag kommen dutzende Menschen auf dem Pariser Trocadéro-Platz zusammen, um der israelischen Geiseln in der Gewalt der radikalislamischen Hamas zu gedenken.
Ungeachtet all der Touristen, die Selfies mit dem Eiffelturm im Hintergrund machen, lesen sie Texte vor, die an die Menschen in Geiselhaft im Gazastreifen erinnern, und singen die französische und die israelische Nationalhymne. Viele französischen Juden sind nun aber enttäuscht von der Haltung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, auf dessen Initiative hin Frankreich und mehrere weitere Länder am kommenden
«Es ist eine Katastrophe, er setzt sich nicht genug für die Geiseln ein», kritisiert die 67 Jahre alte Nicole, die ihren Nachnamen nicht nennen will. «Macron hat gesagt, dass er das erst nach der Befreiung aller Geiseln tun will, aber jetzt hält er sich nicht dran», pflichtet der 73 Jahre alte Isaac ihr bei. «Welches Gebiet und welche Regierung soll dieser Staat denn überhaupt haben?», fragt er skeptisch.
Macron hatte sich zu Beginn seiner Amtszeit um gute Beziehungen zur jüdischen Gemeinschaft Frankreichs bemüht. Es ist weltweit die drittgrösste, nach der in Israel und jener in den USA. Die Zahl ihrer Mitglieder wird auf etwa 400'000 geschätzt. Offizielle Angaben gibt es nicht, da die französischen Behörden keine Statistiken nach Religionszugehörigkeit führen.
Als erster französischer Präsident hatte Macron 2018 an der jüdischen Neujahrsfeier in der Grossen Synagoge von Paris teilgenommen. Auch die Aufnahme der Politikerin und Holocaust-Überlebenden Simone Veil in das Pantheon und der Gedenktag für den jüdischen Offizier Alfred Dreyfus kamen in der jüdischen Gemeinschaft gut an.
In einer Botschaft an den jüdischen Dachverband Crif 2022 nannte Macron Jerusalem «die ewige Hauptstadt des jüdischen Volkes». Wenige Monate nach dem brutalen Überfall der islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ehrte Macron die 42 französischen Opfer mit einem Staatsakt im Hof des Invalidendoms. Dabei sprach er von dem «grössten antisemitischen Massaker unseres Jahrhunderts».
Der nachfolgende Krieg Israels gegen die Hamas im Gazastreifen hatte auch erhebliche Auswirkungen auf die jüdische Gemeinschaft in Frankreich. Die Zahl antisemitischer Taten schnellte nach oben. Allein im vergangenen Halbjahr wurden 646 registriert. «Wir fragen uns, welchen Platz haben wir in der Gesellschaft», sagt Isaac. Viele jüdische Familien spielten mit dem Gedanken der Auswanderung, fügt er hinzu.
Macron reagierte wie auch andere Staats- und Regierungschefs in Europa mit der Zeit zunehmend kritisch auf Israels erbarmungsloses Vorgehen im Gazastreifen, durch das auch zehntausende Zivilisten, darunter viele Kinder, getötet wurden - und er nahm dabei eine heftige Auseinandersetzung mit dem israelischen Regierungschef Binyamin Netanyahu in Kauf.
Kurz vor dem ersten Jahrestag des Massakers vom 7. Oktober forderte Macron vergangenes Jahr, Waffenlieferungen an Israel einzustellen. Auf der Luftfahrtmesse in Le Bourget im vergangenen Juni liess die französische Regierung die Stände israelischer Aussteller schliessen.
Viele Vertreter der jüdischen Gemeinde in Frankreich kritisieren aber insbesondere Macrons Initiative, einen palästinensischen Staat anerkennen zu lassen. Der Dachverband Crif veröffentlichte in dieser Woche eine Umfrage, nach der 71 Prozent der Französinnen und Franzosen eine Anerkennung eines palästinensischen Staates vor einer Befreiung der Geiseln und einer Niederlage der Hamas ablehnen - was der Haltung des Crif entspricht.
Jüdische Institutionen und französische Kulturschaffende riefen Macron am Freitag auf, einen palästinensischen Staat erst dann anzuerkennen, wenn zuvor die im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln freigelassen werden und die Hamas zerschlagen werde. «Andernfalls wäre es eine moralische Kapitulation vor dem Terrorismus», hiess es in einem offenen Brief an ihn.
«Da die Hoffnungen (gegenüber Macron) anfangs gross waren, ist der Bruch nun um so heftiger», resümiert der Crif-Vorsitzende Yonathan Arfi. Es ist ein Zufall des Kalenders, aber für manche mag es ein bitteres Symbol sein: Der Tag der Anerkennung eines palästinensischen Staates durch Frankreich und weitere Länder wie Kanada und Belgien bei der Uno-Generalversammlung am Montag fällt genau mit dem jüdischen Neujahrsfest zusammen.
Claire Gallen und Ulrike Koltermann