Libanon 25. Nov 2025

Ein Jahr Waffenruhe ohne Frieden

Zerstörung bei Beirut nach israelischem Angriff am vergangenen Sonntag. 

Wer nach Aita al-Schaab im Südlibanon kommt, sieht vor allem eines: Zerstörung, wohin das Auge hinblickt.   

Kaum ein Haus steht noch, das nur drei Kilometer von der israelischen Grenze entfernte Dorf liegt in Trümmern. Balkone hängen an bröckelnden Häuserfassaden, Stahlträger ragen aus Trümmern, halb zerfetze Häuser geben Einblick in ehemalige Wohnräume.
90 Prozent des Dorfes wurden im Krieg zwischen der vom Iran unterstützten Hisbollah und Israel im vergangenen Jahr zerstört, sagt Bürgermeister Ahmad Srour. Von den rund 15.000 Einwohnern sind bis heute nur wenige in das Dorf zurückgekehrt, das als wichtige Front der Hisbollah gegen Israel galt. An Wiederaufbau mag derzeit kaum jemand denken. Wieder einmal spitzt sich die Lage mit jedem Tag weiter zu.
Am 27. November 2024 trat eine Waffenruhe in Kraft. Von Frieden kann jedoch keine Rede sein. Israel wirft der Hisbollah vor, ihr Waffenarsenal erneut auszubauen, um damit Angriffe zu starten - täglich greift die Luftwaffe daher weiter an. Erst am Sonntag auch wieder in den Vororten der libanesischen Hauptstadt Beirut. Nach eigenen Aussagen soll es Produktionsstätten, Waffenlager, Hisbollah-Mitglieder und andere Ziele der Miliz treffen.
Die Hisbollah hingegen sieht in den stetigen Angriffen das Hindernis. Sie fordert, dass das israelische Militär zudem noch verbleibende Truppen aus dem Südlibanon abzieht.
Das Gesundheitsministerium in Beirut meldete zuletzt rund 300 Tote seit Beginn der Waffenruhe. Nach UN-Angaben sind darunter auch mehr als 100 Zivilisten. Opferzahlen aus den eigenen Reihen veröffentlicht die Hisbollah nicht. Angriffe gegen das Nachbarland hat sie selbst jedoch nicht mehr gestartet. Sie gilt heute als deutlich geschwächt.
Laut der UN-Beobachtermission Unifil im libanesischen Grenzgebiet zu Israel wurden seit Beginn der Waffenruhe mehr als 7.500 Verstösse in der Luft und 2.500 Verstösse am Boden gezählt. Über 360 zurückgelassene Waffendepots seien registriert worden und an die libanesische Armee übergeben worden.
"Heute kamen die Drohnen nicht, weil sie sehen können, dass wir Besucher haben – eine ausländische Nachrichtenagentur", sagt Hala Kassem, die die einzig noch verbleibende Bäckerei in Aita al-Schaab betreibt. "Heute wollen sie nicht zeigen, wie sie uns sonst terrorisieren." Die israelischen Drohnen sind berühmt für ihr stundenlanges, nervtötendes Surren im libanesischen Luftraum - egal ob im Grenzgebiet, über grösseren Städten oder über der Hauptstadt Beirut. "Manchmal laden wir sie auf einen Tee ein", witzelt Kassem.
Israel beschuldigt die Hisbollah, zivile Gebäude für sich und ihre Waffen zu nutzen. Bis heute kämen israelische Soldaten, "wie sie wollen" in das Dorf, sagt Hadi Mansour, ein weiterer Bewohner, der sich in der Bäckerei sein Frühstück holt. Erst vor ein paar Wochen hätten sie eine Förderschule am Stadtrand gesprengt. "Sie kommen einfach, schneiden Olivenhaine nieder und niemand sagt etwas", fügt er an. Über ein solches Vorgehen Israels berichtete auch die staatliche Nachrichtenagentur NNA. Israel wies Berichte dazu zurück.
Teil der Vereinbarung zur Waffenruhe war auch die Entwaffnung der Hisbollah - ein politisch heikler und seit Jahrzehnten erfolglos angestrebter Prozess im Libanon. Offiziell befinden sich Israel und der Libanon im Kriegszustand. Unter dem Druck der vergangenen Monate zeigte sich Präsident Joseph Aoun jedoch offen für neue Gespräche.
Die Schwächung der Hisbollah hat den Weg zu einer Entwaffnung überhaupt erst ermöglicht. Zuvor hatte sie sich im Libanon einen Staat im Staate aufgebaut. Die Organisation habe sich als einzig wahrer Widerstand gegen den Erzfeind Israel positioniert: Ohne sie - so denken viele ihrer Anhänger - sei der Libanon dem Feind an der Grenze und seinen Expansionsbegehren schutzlos ausgesetzt.
Der Prozess zur Entwaffnung läuft schleppend, für Israel mitnichten in einem angemessenem Tempo. Mit jedem Tag erhöht die israelische Regierung den Druck.
Bis Ende des Jahres soll die libanesische Armee - deutlich schwächer und unterfinanzierter als die Miliz selbst - der Hisbollah die Waffen abnehmen. Die hat dem Zeitplan selbst nie zustimmt, Fortschritten der Armee hat sie sich jedoch nicht entgegengestellt. Die Hisbollah sollte sich bis etwa 30 Kilometer nördlich der israelisch-libanesischen Grenze zurückziehen.
Die Realität zeigt etwas anderes: In Aita al-Schaab sind gerade einmal fünf Soldaten stationiert. "Glauben Sie, das gibt den Menschen ein Gefühl der Sicherheit?", fragt Anwohner Mansour. "Es ist keine Frage des Vertrauens. Die libanesische Regierung hat bisher bewiesen, dass sie uns nicht schützen kann." Bürgermeister Srour betont: "Wir stehen hinter der libanesischen Armee und der Regierung, aber die Fähigkeiten der Armee sind gering."
Im christlichen Nachbardorf Remeisch, nur fünf Kilometer entfernt, ist von Zerstörung nichts zu sehen. Die Strassen sind so sauber und aufgeräumt wie sonst nirgends im Libanon. In umliegenden schiitischen Dörfern hängt an fast jedem Laternenpfahl ein Bild eines im Krieg getöteten "Märtyrers". In Remeisch gibt es so etwas nicht.
Auch das Misstrauen gegenüber Israel ist geringer. "Hier gab es keinen Beschuss", sagt Priester Nadschib al-Amil. Remeisch ist eine der grössten christlichen Gemeinden im Südlibanon und eine jener Ortschaften, die den "Widerstand" nicht unterstützen. Statt auf den Schutz der Armee oder ein Einstellen der israelischen Angriffe zu hoffen, plädiert der Geistliche für Diplomatie: "Wenn du deinem Nachbarn nicht entgegentreten kannst, schliesse Frieden."

Redaktion